Der kalte Himmel - Roman
die sich ihrer eigenen Wichtigkeit sicher waren.
» Würden Sie als Mutter sagen, der Junge ist schwer erziehbar? «
Sehr aufrecht saß Marie dem Arzt gegenüber und versuchte, seinem Blick standzuhalten. » Nein « , entgegnete sie mit fester Stimme. » Ich würde sagen, man muss sich auf ihn einstellen. «
Ein skeptisches Lächeln umspielte seine Lippen. » Warum sind Sie gekommen, Frau … « , routiniert blickte er in seine Unterlagen, » Frau Moosbacher? «
Marie straffte sich erneut. » Ich bin hier, weil der Felix Probleme hat. In der Schule. Er ist eigenwillig. Der Rektor, die Lehrerin, mein Mann, na ja, alle meinen, dass er auf die Hilfsschule gehört. Ich glaube das nicht. «
Das bemühte Lächeln des Mannes wurde stärker. » Natürlich nicht. Sie sind seine Mutter. «
Nun lächelte auch Marie. Voller Hoffnung sah sie den Mann an. » Aber das ist es nicht. Jedenfalls nicht nur. Der Felix ist gescheit. Der kann vieles, was besonders ist. Er kann ganz ungewöhnlich gut auswendig lernen. Und rechnen. Er denkt sich ganz viele Dinge aus, auf die kein anderer kommen würde. «
Während sie sprach, sah Marie, wie der Arzt erst gelangweilt auf seine Uhr und dann demonstrativ aus dem Fenster schaute. Er hörte ihr nicht zu. Nicht wirklich. Nicht so wie sie es erhofft hatte. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie Felix einen Schreibblock des Mannes vom Schreibtisch gegriffen hatte und nun auf seinem Schoß zerlegte. Der Arzt blickte mit kaum gezügeltem Spott auf Mutter und Sohn.
» Vielleicht ist er ja nur ungezogen. Es gibt Eltern, die mit der anspruchsvollen Erziehungsaufgabe überfordert sind. «
Die Enttäuschung schnürte Marie die Kehle zu. Jedes ihrer Worte hier war umsonst gewesen. Der Arzt hatte sein Urteil bereits getroffen.
» Sie haben die Menschen da draußen gesehen. Viele mit schweren gesundheitlichen Problemen. Das, was Sie mir erzählt haben, gehört hier nicht her. Ich werde einen Kollegen von der Psychiatrie bitten. Vielleicht kann der Ihnen helfen. «
Marie war ganz blass geworden. Unfähig sich zu rühren, starrte sie den Mann an.
» Auf Wiedersehen « , sagte der nun mit Nachdruck. Wie betäubt erhob sich Marie von ihrem Stuhl. » Komm, Felix « , sagte sie leise.
*
Marie war erleichtert, als man ihr noch am gleichen Tag ihren neuen Termin zuwies. Doch als ihr der Chefarzt der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie schon bei den Begrüßungsworten klarmachte, dass er die Anwesenheit der Mütter bei den Untersuchungen seiner Schützlinge für kontraproduktiv hielt und sie daher bat, im Flur vor den Untersuchungsräumen Platz zu nehmen, war sich Marie plötzlich nicht mehr sicher, ob das alles hier eine gute Idee war. Unruhig lief sie vor den verschlossenen Türen hin und her und versuchte sich auszumalen, was die Ärzte wohl gerade mit Felix machten. Durch eine Glasscheibe sah sie ihn auf einem Behandlungsstuhl sitzen, der Psychiater stand direkt vor ihm. Marie schloss die Augen. Es würde schon alles gut werden. Es musste gut werden.
» Sag mal, Felix « , murmelte Professor Metzler und betrachtete das blasse Gesicht des Jungen eingehend. » Du magst es nicht, wenn man dich anfasst, stimmt das? «
Es war nicht zu übersehen, dass das Kind zudem jeden Blickkontakt vermied. Ein signifikantes Merkmal, keine Frage!
Fast unmerklich schüttelte Felix den Kopf.
Mit der Akribie des Wissenschaftlers beobachtete der Psychiatrieprofessor, wie der Junge weiterhin alles unternahm, um seinem Blick auszuweichen, und sich auf ein Bild an der Wand fokussierte.
» Was ist das? « , fragte Felix interessiert.
» Das ist die Röntgenaufnahme eines menschlichen Schädels « , antwortete der Arzt und nutzte den Moment, um den Jungen etwas fester in die Seite zu drücken.
» Wie fühlst du dich dabei? « , fragte er eindringlich und ließ nun seine Finger unmittelbar vor der Nase des Jungen kreisen.
Die fremden Schatten vor seinen Augen versetzten Felix in Panik. » Am Donnerstag wechseln sich Sonne und Wolken ab « , ratterte er wie auf Knopfdruck los. In seiner Not rekapitulierte er die letzte Wettervorhersage, die er aus dem Radio der heimischen Küche behalten hatte. » Vereinzelt sind Schneefälle zu erwarten, die Temperatur wechselt zwischen minus sechs und minus zehn Grad Celsius … «
» Ach, das ist ja interessant « , konstatierte der Professor. Entsetzt musste Marie von der Glasscheibe des Mittelgangs aus zusehen, wie der Arzt den Kopf des Jungen fest mit beiden Händen
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