Der kalte Himmel - Roman
Menschen vor sich geht. Er wird sich immer anders fühlen und auch anders verhalten. «
Ohne es zu wollen hatte Niklas Marie mit jedem seiner Worte und Erklärungen weiter und weiter auf einen Abgrund zugestoßen, den sie nun, zum ersten Mal in ihrem Leben, ohne Beschönigung, ohne Hoffnung und Ausflucht wie einen alles verschlingenden Krater vor sich sah.
» Immer anders « , stieß sie tonlos hervor. » Nie normal? «
Ihr ungläubiger Blick schnitt Niklas ins Herz. Doch er hielt ihm stand. Der Arzt in ihm wusste, dass in solchen Fällen nur die Wahrheit helfen konnte, wie schmerzlich sie für die Eltern auch sein mochte. Nur auf der Grundlage einer klaren Diagnose war es möglich, weiterführende Schritte für die Patienten zu entwickeln.
Niklas schüttelte den Kopf. » Nein « , sagte er schließlich. » Nicht so, wie wir es uns wünschen. «
Maries Augen verdunkelten sich. Das war es also. Aus und vorbei. Mit einem Schlag hatte sich in ihrem Inneren eine Wüste aufgetan, in der es nichts mehr zu hoffen, nichts mehr zu empfinden, nichts mehr zu kämpfen gab. Sie fühlte sich leer, vollkommen leer.
Niklas sprach einfach weiter, erfüllt von seiner Diagnose, seiner neu gewonnen ärztlichen Klarheit.
» Felix braucht Regeln « , sagte er, » feste Rituale. Und am besten ist es, wenn er diese Rituale für sich selbst entwickelt und versteht. Er liebt stereotype, wiederkehrende Bewegungen. Sein Vogelspiel etwa, auch wiederkehrende Rhythmen, mechanische Abläufe. Ich könnte mir vorstellen, dass ihm das Schutz bietet, ihn abschirmt gegen die Unzulänglichkeiten menschlicher Gefühle. «
Niklas sah Marie bei diesen Worten an, suchte das Einverständnis in ihrem Blick und bemerkte zu spät, welche tiefe Verzweiflung er bei ihr ausgelöst hatte.
Sie war nicht länger fähig, seinen Blick aufzunehmen. Die Taubheit, die Marie erfasst und überflutet hatte, ließ sie ins Leere starren.
» Liebe und Wut, Glück und Trauer anderer Menschen kann Felix nicht verstehen « , fuhr Niklas behutsam fort.
» Da muss er ja furchtbar einsam sein « , stieß sie fassungslos hervor. Niklas nestelte nervös in seiner Jackentasche und zog eine Zigarette aus der fast leeren Packung.
» Felix ist das besondere Geschenk einer außergewöhnlichen mathematischen Begabung zuteilgeworden « , sagte er mit belegter Stimme. » Da hat er Glück. Wenn wir ihn richtig fördern, dann könnte ihm seine Intelligenz helfen, sich all das zu erschließen, was ihm Gefühle nicht zeigen können. «
Marie biss sich auf die Lippen. » Wie soll das denn gehen? « , fragte sie resigniert. » Wo gibt es denn so eine Förderung? «
Niklas hob die Hände. » Das ist das Problem « , gestand er. » Wir stehen erst am Anfang. Wir müssten länderübergreifend forschen. «
» Also, können wir ihm hier nicht helfen « , warf Marie bitter ein. » Er wird nicht gesund. «
Paul, der seine Blicke mehrfach zwischen seiner Frau und dem Arzt hatte hin- und herwandern lassen, hielt das Ganze nun nicht mehr aus. » Was heißt das denn jetzt? « , rief er wieder. » Was heißt das denn für unseren Jungen? «
Niklas seufzte und zog tief an seiner Zigarette. » Felix ist außergewöhnlich begabt. Er lebt in einem eigenen abstrakten Universum, das sich aus Zahlen und Tönen zusammensetzt. Ein kalter Himmel sozusagen. Eigentlich getrennte Sinne wie Sehen und Hören verbinden sich in seiner Welt. Das nennt man Synästhesie, das ist sehr ungewöhnlich. Aber Felix ist eben auch ein Mensch mit einem autistischen Krankheitsbild. Der noch lange einer psychiatrischen Behandlung bedarf, einer speziellen Schule, die seine sozialen und emotionalen Fähigkeiten fördert. «
Für einen schmerzhaften Moment war es nun ganz still geworden.
» Also wird er nie geheilt « , flüsterte Marie.
Ihre Trauer berührte Niklas tief. Für einen Moment hielt er inne, rang sich dann aber doch zu einer ehrlichen Antwort durch.
» Nein, heilen können wir ihn nicht, Marie « , antwortete er schließlich. » Aber helfen. «
» Und wie lange stellen Sie sich eine solche Behandlung vor? « , fragte Paul tonlos.
» Vielleicht Jahre « , gab Niklas zu.
Marie sprang auf. Sprang einfach auf, ohne noch einmal den jungen Arzt oder ihren Mann anzusehen. Sie rannte los, riss die Tür zum Klinikflur auf und lief so schnell sie konnte, drängte sich in einen gerade abfahrenden Aufzug, der sich hinter ihr ruckartig schloss, und starrte in die Gesichter wildfremder Menschen. Die Tränen strömten ihr
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