Der Kinderpapst
Stein anzurühren. Was ihr Vater
soeben gesagt hatte, war eine so fürchterliche, so unvorstellbare Anklage, dass
es ihr den Boden unter den FüÃen wegzog. Wenn das stimmte, und Teofilo war
tatsächlich der Mörder seines Nachfolgers ⦠Nein, sie weigerte sich, diesen
Gedanken auch nur zu denken. Vor dem Bildnis ihrer Mutter blieb sie stehen und
blickte in ihr Gesicht, in der verzweifelten Hoffnung, irgendeine Antwort,
irgendeinen Trost darin zu finden. Doch sie sah nur eine fremde, schöne Frau an
der Wand, an die sie keine andere Erinnerung hatte als dieses Porträt, ein
stummer Blick aus einem halben Gesicht, bestehend aus Farbe und Leinwand.
»Auch wenn es noch so bitter ist«, sagte ihr Vater, »wir dürfen uns
nicht vor der Wahrheit verschlieÃen. Ich war doch selbst dabei, wie der Mönch
seine Aussage gemacht hat. Teofilo di Tusculo ist der letzte Mensch gewesen,
der Clemens in Pesaro besucht hat. Und Petrus da Silva hat den Wein gekostet,
den Teofilo ihm geschenkt hatte. Der Wein war mit Bleizucker vermischt.«
»Petrus da Silva!«, schnaubte Chiara und kratzte sich über Kreuz
beide Schultern. »Ausgerechnet! Dem würde ich alles zutrauen, sogar, dass er
selber â¦Â«
Während sie sprach, fing ihr Sohn an zu quengeln. Chiara beugte sich
über das Körbchen, nahm den Kleinen auf den Arm und wiegte ihn an ihrer Brust.
Doch selbst der Anblick von Nicchinos Gesichtchen, der sonst ihr Herz vor
Freude hüpfen lieÃ, reichte jetzt nicht aus, um ihre Stimmung aufzuhellen.
»Bitte sag, dass das nicht stimmt«, flüsterte sie, mehr an ihr Kind
als an ihren Vater gerichtet, »bitte sag, dass das nicht wahr ist â¦Â«
Doch anstelle ihres Sohnes antwortete ihr Vater.
»Es gibt keinen Grund, an der Glaubwürdigkeit des Zeugen zu
zweifeln. Ich habe mich umgehört, Pater Anselmo gilt als ein einfältiger, aber
ehrlicher Mann, der keiner Fliege was zuleide tut. Und Petrus da Silva?«
Girardo di Sasso schüttelte den Kopf. »Der Kanzler hat alles dafür getan,
Clemens zu inthronisieren. Ich weiÃ, er ist glatt wie ein Aal, aber er ist kein
Verbrecher. Ihm geht es nur um das Wohl der Kirche, und dafür brauchte er den
neuen Papst, einen Freund des Kaisers, als Garant für den Frieden. Nein, die
Einzigen, die wirklich einen Vorteil von Clemensâ Tod haben, sind die Tuskulaner.
Sie wollen die Macht zurück, seit Wochen schon machen sie die Stadt unsicher,
und was Teofilo betrifft â ich würde nicht die Hand für ihn ins Feuer legen. Es
sind zu viele Verbrechen in seinem Namen geschehen, als dass ich glauben
könnte, Saulus habe sich plötzlich zum Paulus gewandelt.«
Je länger ihr Vater sprach, umso gröÃer wurden Chiaras Zweifel. Auch
wenn ihr Herz sich dagegen sträubte, sie konnte die Wahrheit nicht leugnen.
Alle Vernunftgründe sprachen dafür, dass Teofilo der Täter war.
Im Hof donnerte jemand gegen das Tor.
Girardo di Sasso trat ans Fenster und blickte hinaus.
»Um Gottes willen â da ist er!«
»Wer?«
»Teofilo!«
Bei der Nennung des Namens begann Nicchino zu schreien. Mit dem
Kleinen auf dem Arm, folgte Chiara ihrem Vater ans Fenster.
Als sie ihren einstigen Geliebten erblickte, lief ihr ein Schauer
über den Rücken. Teofilo sah aus wie ein Wegelagerer. Sein Haar fiel ihm bis
auf die Schultern, und hinter dem Bart, den er sich hatte wachsen lassen,
verschwand sein Gesicht. Am schlimmsten aber war seine Kutte. Sie war über und
über mit Blut verschmiert.
»Chiara!«, rief er, als er sie am Fenster entdeckte.
Für einen Wimpernschlag trafen sich ihre Blicke. Chiara zupfte an
ihrem Kopftuch. Im selben Moment fing Nicchino an zu schreien, wie er noch nie
geschrieen hatte. Als wäre er von tausend Teufeln besessen, schrie und schrie
und schrie er sich die Seele aus dem winzigen unschuldigen Leib.
»Heilige Muttergottes!«, flüsterte sie und wich voller Entsetzen vom
Fenster zurück.
9
Eingehüllt in schwere Zobelfelle, hockte Petrus da Silva auf
der Bank des päpstlichen Reisekarrens, dessen Leinwandplane kaum Schutz gegen
die feuchte Kälte bot, und starrte fröstelnd auf den Sarg, in dem die
sterblichen Ãberreste seines allzu früh verblichenen Herrn in dessen Heimat
überführt wurden. Der Sarg war an allen vier Ecken angekettet, damit er in dem
rumpelnden Wagenkasten nicht zum gefährlichen Geschoss wurde.
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