Der Kinderpapst
los?«
»Gar nichts ist los! Aber das ist es ja gerade. Seit Tagen hat sich
kein einziger Pilger mehr zu uns verirrt. Die Stadt ist wie ausgestorben.« Anna
stellte den Krug in das Wandregal zurück. »Wir putzen und fegen und wischen
Staub von morgens bis abends, wie früher. Aber wozu? Nicht mal die Feiertage
locken Fremde in die Stadt. Hat es überhaupt Sinn, die Herberge
weiterzuführen?«
»Seit wann bist du eine solche Unke?«, fragte Chiara. »So kenne ich
dich ja gar nicht. Petrus da Silva hat uns den Peterspfennig doch fest
zugesagt.«
»Und die Bedingung, die er daran geknüpft hat? Hast du die
vergessen? Du bekommst das Geld nur, wenn du ins Kloster gehst. Du und
Kloster!« Anna lachte auf. »Mit einem Kind!«
»Abt Bartolomeo hat gesagt, wenn eine Frau ein Kind aus einer
gültigen Ehe hat und sie nach dem Tod ihres Mannes beschlieÃt, den Schleier zu
nehmen, darf das Kind mit ins Kloster. Angeblich gibt es Klöster, in denen
ganze Scharen von Kindern â¦Â«
»Abt Bartolomeo hat aber noch was anderes gesagt«, fiel Anna ihr ins
Wort.
»Nämlich?«
»Dass du kein Nonnenfleisch hast.« Sie schaute Chiara an. »Willst du
den Rest deines Lebens wirklich hinter den kalten, dicken Mauern eines Klosters
versauern? Einsam und allein? Ohne Liebe?«
»Ach, Liebe«, seufzte Chiara. »Gibt es die überhaupt?«
Anna nickte. »Doch, Chiara, die gibt es. Aber man muss auch an sie
glauben.«
Während sie sprach, wurde drauÃen ein Donnergrollen laut, das
anschwoll wie ein Sturm.
»Was ist da los?«
Chiara drehte sich um, um ihren Sohn auf den Arm zu nehmen.
Doch Nicchino war verschwunden. Und die Tür stand sperrangelweit
offen.
»Um Himmels willen!«
Sie stürzte hinaus auf die Gasse. DrauÃen war die Hölle los. Während
Menschen kreischend in die Hauseingänge flohen, stürmte eine Kavalkade Reiter
die Gasse hinauf, an ihrer Spitze Teofilo, flankiert von seinem Bruder Gregorio
und dem Toskanagrafen Bonifacio. Eine Horde Raubritter, die über die Stadt
herfiel wie eine feindliche Armee.
»Nicchino!« Chiara blickte nach rechts, nach links. Doch von ihrem
Sohn keine Spur. »Nicchino!«
Die Kavalkade war kaum noch einen Steinwurf entfernt. Da entdeckte
sie ihn. Auf allen Vieren krabbelte er auf einen heranrollenden Karren zu und
zeigte mit dem Finger auf das herrenlose Gefährt.
»Da, da da!«
Chiara stieà einen Mann beiseite, der im Weg stand, und drängte sich
durch das Gewühl. Sie sah nur die riesigen Räder des Karrens, sie waren mit
Eisenbändern beschlagen und rollten immer näher auf ihr Kind zu.
»Nicchino!«
Der Boden bebte vom Hufgetrappel der Pferde. Ohne zu denken, warf
Chiara sich auf ihren Sohn, riss ihn in die Höhe und sprang mit einem Satz auf
die andere Seite der Gasse.
Gott sei Dank, sie hatte es geschafft! Während sie in einem Hauseingang
Deckung nahm, galoppierten die ersten Reiter heran. Eingehüllt von einer
Staubwolke, donnerten sie vorbei. Chiara versuchte, einen Blick auf Teofilo zu
erhaschen. Hell blinkte sein Schwert in der Sonne. Doch er sah sie nicht. Nur
Gregorio drehte sich im Sattel nach ihr um. Als sie den Hass in seinem Blick
sah, lief es ihr kalt den Rücken runter.
»Da, da, da!«
Sie drückte ihr Kind an sich und bedeckte sein Gesicht mit Küssen.
Wenn es noch einen Funken Hoffnung gegeben hatte, dass Teofilo unschuldig war,
dann war dieser Funke jetzt für immer erloschen.
12
Applaus brandete auf, als Teofilo di Tusculo zusammen mit seinem
Bruder Gregorio, dem Kommandanten der Stadtgarde, und Bonifacio di Canossa, dem
mächtigsten Mann Italiens, die Versammlung betrat.
»Römer!«, rief der Markgraf von Tuscien den wartenden Edelleuten zu.
»BegrüÃt mit mir den Mann, der gekommen ist, Euch Eure Stadt zurückzugeben!«
Während der Applaus zum Orkan anschwoll, strich Girardo di Sasso
sich über den Kinnbart. Nein, es hörte nicht auf â es würde niemals aufhören.
Dreimal hatten die Römer Benedikt zum Teufel gejagt, und zum dritten Mal kehrte
er nun zurück, um nach der Tiara zu greifen. Teofilo di Tusculo war eine
Ausgeburt des Bösen, ein Sendbote der Unterwelt. Viele Jahre hatte Girardo sich
gegen diese Wahrheit gesperrt. Doch jetzt musste er die Lüge erkennen, mit der
er sich selber so lange betrogen hatte.
Ach, hätte er doch nie das Glück
Weitere Kostenlose Bücher