Der Kinderpapst
sagte er. »Doch erlaubt mir
eine Frage.«
»Welche?«
»Warum kommt Ihr erst jetzt zu mir? Warum habt Ihr das Zeugnis Eures
Mannes nicht längst korrigiert?«
Auch darauf blieb Chiara die Antwort nicht schuldig. »Weil ich die
Wahrheit nicht wahrhaben wollte«, sagte sie. »Statt ihr ins Gesicht zu schauen,
habe ich meine Augen vor den Tatsachen verschlossen. Aber jetzt kann ich sie
nicht länger leugnen. Die Tuskulaner sind keine Menschen, sondern Ungeheuer.«
Das letzte Wort sagte sie mit solchem Nachdruck, dass Petrus da
Silva zusammenzuckte.
»Was bezweckt Ihr mit Eurer Anzeige?«, fragte er.
»Das ist allein meine Sache«, erwiderte Chiara. »Doch die Wahrheit
ist die Wahrheit, gleichgültig, aus welchen Gründen sie ans Licht kommt.«
Petrus da Silva verstummte. Diese Frau besaà mehr Mut und
Entschlossenheit als die meisten Männer, die er kannte. Aufmerksam musterte er
ihr Gesicht. War es vielleicht gar nicht das Geld, sondern das Bedürfnis nach
Rache, das sie trieb? Rache für die Tötung ihres Mannes im Krieg gegen die
Tuskulaner? Obwohl die Ungewissheit, in die ihn diese Frau versetzte, ihm
zuwider war, beschloss er, sich zu überwinden. Was immer der Grund für die
Anzeige war: Chiara di Sassos Aussage war Gold wert â einer Witwe würde jedes
Gericht Glauben schenken.
»Ich möchte Euch einen Vorschlag machen«, sagte er schlieÃlich.
»Bitte sprecht.«
»Wenn Ihr auf den Peterspfennig verzichtet, bin ich bereit, der
Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen.«
»Indem Ihr über Gregorio di Tusculo zu Gericht sitzt?« Ihre Miene
hellte sich auf.
»Indem ich ein Gericht einberufe«, erwiderte Petrus da Silva, »und
den Sabinergrafen zum Richter einsetze.«
»Den Sabinergrafen? Mit welchem Recht?«
»Die Sabiner gehören zu den vornehmsten römischen Adelsfamilien und
haben viele Male den Patriciustitel getragen und bewahrt. Ich selber werde die
Anklage erheben. Vorausgesetzt, Ihr seid bereit, Eure Aussage vor Gott und der
Welt zu wiederholen.«
»Das bin ich«, erklärte sie. »Aber warum wollt Ihr nicht selbst den
Vorsitz führen?«
»Weil mein Amt als Kanzler es mir verbietet. Aber macht Euch keine
Sorgen«, fügte er hinzu. »Das Urteil steht auÃer Zweifel. Wenn jemand die
Tuskulaner hasst, dann der Sabiner â schlieÃlich haben die Tuskulaner den Tod
von Severos Sohn auf dem Gewissen.«
Er trat ans Pult und griff nach dem Schreibzeug. In seiner klaren,
flüssigen Schrift fixierte er die wenigen Worte, die nötig waren: eine
Erklärung, mit der Chiara di Sasso auf ihre Ansprüche verzichtete, die ihr aus
dem Vertrag zwischen Papst Gregor, vulgo Giovanni
Graziano, und seinem Vorgänger Papst Benedikt, vulgo Teofilo di Tusculo, zuflossen. Nachdem er den Text niedergeschrieben hatte, las
er die Zeilen noch einmal durch. Dann trocknete er mit Sand die Tinte und
reichte Chiara das Pergament.
»Seid Ihr bereit, das zu unterschreiben?«, fragte er.
Sie warf einen Blick auf den Bogen. Dann nahm sie die Feder und
setzte ihren Namen unter die Erklärung.
12
»Bist du von Sinnen?«, fragte Girardo di Sasso.
»Weshalb«, fragte Chiara zurück. »Weil ich auf das Geld verzichte?«
Es war ein klarer, kalter Wintertag im Februar des Jahres 1049, als
sie an der Seite ihres Vaters zum Petersdom eilte, um an der Einsetzungsfeier
des neuen Papstes teilzunehmen. Der Bischof von Toul hatte den Namen Leo
angenommen, Leo der Löwe, und es hieÃ, dieser Name sei der Inbegriff seiner
Mission.
Ihr Vater schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Nicht wegen des
Geldes. Wegen der Anklage, die du gegen die Tuskulaner erhoben hast.«
»Ihr habt gesagt, ich hätte Teofilo die Urkunde nicht geben dürfen.
Das sei ein Fehler gewesen. Den wollte ich wieder gutmachen.«
»Aber so etwas kann einen Krieg auslösen!«
»Begreift doch, Vater! Domenico hat mir sein Wissen anvertraut,
damit ich im Notfall eine Waffe gegen die Tuskulaner habe. Jetzt bin ich in Not
und brauche sie!«
Sie hatten den Dom erreicht. Während die letzten Besucher in das
Gotteshaus hasteten, blieb Girardo auf dem Treppenabsatz stehen.
»Was hast du vor?«, wollte er wissen.
»Ich werde die Tuskulaner zwingen, mir mein Kind wiederzugeben.«
»Und wie willst du das erreichen?«
»Ich habe einen Plan«, sagte sie. »Aber dafür
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