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Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Der kleine Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der kleine Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Tartt
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Klaviertaste.
    Vorsichtig, sehr vorsichtig machte sie einen Riesenschritt zurück. Die Planke federte knarrend wieder hoch. Steifbeinig und mit klopfendem Herzen schob sie sich an den Rand des Tanks, zum Geländer, wo die Bretter stabiler waren – warum
war die Luft so merkwürdig dünn hier oben? Höhenkrankheit : Piloten und Bergsteiger litten darunter, und was immer das Wort tatsächlich bedeuten mochte, es beschrieb, was sie empfand: ein flaues Gefühl im Magen und ein Funkeln am Rande ihres Gesichtsfelds. In der diesigen Ferne glänzten Blechdächer. Auf der anderen Seite lag der dichte Wald, wo sie und Hely so oft gespielt hatten, wo sie ihre alltäglichen Kriege geführt und sich gegenseitig mit Klumpen von rotem Lehm bombardiert hatten: ein Dschungel, üppig und singend, ein palmenreiches kleines Vietnam, in das man mit dem Fallschirm gelangte.
    Sie umrundete den Tank zweimal. Die Tür war nirgends zu sehen. Harriet fing schon an zu glauben, dass es sie gar nicht gab, als sie sie schließlich doch noch entdeckte: verwittert und nahezu perfekt getarnt in der gleichförmigen Fläche, erkennbar nur an ein oder zwei Splittern Chromfarbe am Griff, die noch nicht abgeblättert waren.
    Sie ließ sich auf die Knie fallen. Mit einer ausladenden Scheibenwischerbewegung des Arms zog sie die Klappe auf (die Angeln knarrten wie in einem Horrorfilm) und ließ sie mit einem Knall fallen, der die Planken unter ihr vibrieren ließ.
    Drinnen: Dunkelheit und ein übler Geruch. Das leise, intime Sirren von Moskitos hing in der abgestandenen Luft. Durch Löcher in der Decke starrten stachlige Sonnenstrahlen kreuz und quer hinunter, dünn wie Bleistifte, staubige Lanzen, pudrig und pollenschwer wie Goldrute. Das Wasser unten war dick und tintenschwarz wie Motoröl. Auf der anderen Seite erkannte sie die undeutlichen Umrisse eines aufgedunsenen Tiers, das auf der Seite schwamm.
    Eine wacklige und halb durchgerostete Eisenleiter führte ungefähr zwei Meter tief hinunter und endete unmittelbar über der Wasseroberfläche. Als Harriets Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, sah sie mit prickelnder Erregung, dass etwas Glänzendes mit Klebstreifen an der obersten Sprosse befestigt war, ein Paket oder so etwas, eingewickelt in einen schwarzen Plastikmüllsack.
    Sie stieß mit der Fußspitze dagegen. Nach kurzem Zögern
legte sie sich auf den Bauch, langte durch die Luke und schlug leicht mit der flachen Hand dagegen. Etwas Weiches, aber nicht Flüssiges war darin – kein Geld, nichts Gestapeltes, Scharfkantiges, fest Umrissenes, sondern etwas, das unter Druck nachgab wie Sand.
    Das Paket war mit starkem Klebeband vielfach umwickelt. Harriet zupfte und zerrte daran, zog mit beiden Händen, versuchte die Fingernägel unter die Ränder des Klebebands zu graben. Schließlich gab sie auf, riss mehrere Schichten Plastik auf und griff mitten ins Herz des Pakets.
    Drinnen: etwas Glattes, Kühles, das sich tot anfühlte. Hastig zog Harriet die Hand zurück. Staub rieselte aus dem Paket und breitete sich wie ein Perlmuttfilm auf der Wasseroberfläche aus. Sie spähte hinunter auf das trockene Schillern (Gift? Sprengstoff?), das wie eine pulvrige Glasur auf dem Wasser trieb. Über Rauschgift wusste sie Bescheid (aus dem Fernsehen und von den farbigen Abbildungen im Gesundheitskundebuch), aber da war es auffällig und unverkennbar: handgedrehte Zigaretten, Injektionsspritzen, bunte Pillen. Vielleicht diente dieses Paket nur zur Ablenkung, wie bei Stahlnetz; vielleicht war das eigentliche Paket anderswo versteckt, und das hier war nur ein gut verschnürter Sack mit ... was?
    In dem aufgerissenen Müllsack schimmerte etwas glänzend und fahl. Behutsam schob Harriet das Plastik beiseite und stieß auf ein geheimnisvolles Nest aus weißen Beuteln, das aussah wie das Gelege von riesigen Insekteneiern. Einer plumpste ins Wasser – Harriet zog schnell die Hand zurück – und trieb halb versunken wie eine Qualle unter der Oberfläche.
    Einen schrecklichen Augenblick lang glaubte sie, die Beutel seien lebendig. In den wässrigen Lichtreflexen, die im Innern des Tanks umhertanzten, hatte es ausgesehen, als pulsierten sie sacht. Aber jetzt sah sie, dass es wirklich nur durchsichtige Plastikbeutel waren, die ein weißes Pulver enthielten.
    Behutsam langte Harriet hinunter und berührte einen der kleinen Beutel (die feine blaue Linie des Ziploc-Verschlusses am oberen Rand war deutlich sichtbar), und dann hob sie ihn
heraus und wog ihn in der

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