Der Kopfjäger: Der 1. SPECIAL X Thriller
eines Rings, den er von der Leiche seines Vaters an sich genommen hatte, als die Nazis den alten Mann im blutbespritzten Schnee der Ukraine liegen gelassen hatten. Und den Hut trug er immer noch: einen abgegriffenen und etwas verfärbten Prärie-Stetson, eine Art von Kopfbedeckung, wie man sie in Alberta und in Texas und im Kleiderschrank von John Travolta finden konnte. Ein schmales Hutband aus Indianerperlen wand sich um die Krone und an der linken Seite des Bandes steckte ein winziger Wimpel, auf dem DALLAS COWBOYS stand.
Die zwei Männer saßen im White Spot Coffeeshop an der Cambie and King Edward Street, ein paar Straßen nördlich der Headhunterzentrale. Beide hatten Schinken und pochierte Eier mit Roggentoast bestellt. Ihren Kaffee tranken beide schwarz. Der Stetson lag zwischen ihnen, ein Stück rechts auf dem Tisch.
»Ist das derselbe Hut, den Sie 1970 getragen haben?«, wollte der Superintendent wissen.
»Ja, derselbe.«
DeClercq schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht«, sagte er.
»Was verstehen Sie nicht? Den Hut oder das Fähnchen?«
»Beides«, erwiderte der Polizist.
Der Russe grinste. »Waren Sie je mit Immigranten zusammen, neu eingetroffenen, meine ich? Also, wenn man das erste Mal den Fuß auf fremden Boden setzt und weiß, dass man da bleiben wird, dass man nie mehr nach Hause gehen kann, dann setzt in einem unweigerlich eine Art deprimierende Entfremdung ein. Kleidung, Essen, Sprache, Verhalten, Haarschnitt, die Art, wie man geht – alles um einen herum ist so völlig anders. Man weiß, dass man da nicht hingehört. Und man hat Angst, dass man das auch nie wird.
Als ich 1964 in Calgary eintraf, war die Stampede im vollen Schwung. Indianer tanzten auf den Straßen, es gab Frühstück vom Verpflegungswagen, Rodeos und alle liefen mit Zehn-Gallonen-Hüten herum.
Ich war auf der Straße von lauter Pseudo-Cowboys umgeben. Ich kaufte mir den Stetson und ging sofort in der Menge unter.
Als die Stampede vorbei war, behielt ich den Hut – er hielt mir den Kopf warm.«
Die Bedienung schenkte ihnen Kaffee nach und warf dabei einen Blick auf den Hut. Sie schob die Augenbrauen ein Stück hoch und sah DeClercq an. »Wollen Sie etwas Hafer für Ihr Pferd?«, fragte sie und lächelte. Der Russe lachte.
»Okay«, sagte DeClercq. »Und das Fähnchen?«
»In Russland spielt jeder Schach. Ich habe schon mit fünf damit angefangen. Hier spielen nur wenige Leute Schach, aber eine ganze Menge interessieren sich für Football. In beiden Spielen hängt der Sieg von Psychologie und Strategie ab. Und um wirklich Spaß am Football zu haben, braucht man ein Team. Meines sind die Dallas Cowboys, weil ich einfach mag, wie sie spielen. Leute sehen das Fähnchen, und wenn sie mein Interesse teilen, beginnen sie ein Gespräch mit mir. Man kommt so in Kontakt. Und das hilft mir, Freunde zu finden. So wie auch der Hut.«
DeClercq hatte in seiner Karriere zu viele Leute verhört um nicht gelernt zu haben, dass es weniger darauf ankam, was einer sagte, als wie er es vorbrachte. Eine zu lange Erklärung bedeutete mangelnde Überzeugung.
Ich denke, Sie sind sehr einsam, Joseph, dachte der Superintendent. Derselbe Hut. Dieselbe Angst, dass Sie nicht hierher gehören. Jetzt verstehe ich.
»Ich glaube nicht, dass man seine Wurzeln einfach hinter sich zurücklassen kann«, sagte er dann. »Das habe ich versucht, indem ich Quebec verließ. Nach dem, was mit Janie und Kate passiert war, wollte ich bloß davonlaufen, wollte versuchen zu entkommen. Und ich habe festgestellt, dass man das nicht kann. Das ist jetzt zwölf Jahre her, Joseph, und doch drängt sich mir die Erinnerung jeden Tag aufs Neue auf. Sie wird mich quälen, bis ich einmal sterbe. Ganz besonders mein Kind. Ich habe es lediglich geschafft, meine Wurzeln mitzunehmen und sie hier draußen neu einzupflanzen. Ich nehme an, dass das der eigentliche Grund ist, warum ich wieder arbeite. Es ist einfach Zeit, mit dem Weglaufen aufzuhören. Dafür ist das Leben zu kurz. Wissen Sie, was ich meine?«
Awakomowitsch nickte, sah ihn aber dabei nicht an. »Manchmal mache ich mir Gedanken, dass ich gar nicht lebe. Dass ich irgendwie mein Leben in ein leeres Schachspiel verwandelt habe. Dass mir nur noch das Warten auf das Schachmatt am Ende geblieben ist.«
»Dann seien Sie willkommen an der Westküste«, sagte Robert DeClercq. »Von hier gibt es kein Entkommen. Man geht entweder dahin zurück, woher man gekommen ist, oder man sinkt ins Meer. Da hat man keine
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