Der Kuss des Lustdämons
„Es fällt mir wahrhaftig nicht leicht, Ihnen das mitzuteilen, was ich nun zu sagen habe. Aber ... unser Redaktionschef hat gestern Abend Selbstmord begangen.“ Diese Worte waren wie ein Paukenschlag. Celice setzte sich kerzengerade auf und heftete den Blick auf ihre Vorgesetzte.
„Was? Henry? Das ... das kann nicht sein!“
Innerlich versank das letzte Fundament einer Hoffnung in Treibsand. Ein dicker Stein wälzte sich von Celices Brust und hinterließ Taubheit in ihrer Seele. Selbstmord? Nie im Leben! Er war doch viel zu energisch in all seinem Tun.
„Es ist leider wahr, und auch ich bin noch außer mir über diese Nachricht.“
Sie war außer sich? Wie es in ihrem Inneren aussah, vermochte Celice nicht zu beurteilen, aber nach außen hin schlug man bei Frau Stieling mit dem Kopf gegen eine Wand. Unglaublich!
„Da Sie sehr lange Zeit seine Lebenspartnerin waren, bin ich der Meinung, dass Sie das Recht dazu haben, die Wahrheit sofort zu erfahren. Er hat sich in der vergangenen Nacht von unserem Dach in den Tod gestürzt. Seine Leiche wurde heute Morgen von Passanten vor dem Haupteingang entdeckt. Es ist wirklich tragisch.“
Celice starrte auf die Drachenbäume, die rund um das Panoramafenster aufgestellt waren.
„ Aufgrund von unerwarteten Backupproblemen mussten wir alle Speicherstände auf Null zurücksetzen. Klicken Sie hier, um das Spiel des Lebens neu zu starten “, schoss es durch ihre Gedanken. „ Aber um Ihnen eine kleine Entschädigung für die Umstände zu geben, haben wir gleich noch ein neues Update aufgespielt. Erleben Sie Ihre Geschichte mit neuen Auswahlmöglichkeiten und alternativem Ende! “
Toll!
„Aufgrund dieses Trauerfalls mussten wir kurzfristig umdisponieren. Leon wird die Redaktionsleitung übernehmen. Es wäre günstig, wenn Sie ihn sofort aufsuchen würden. Sie finden ihn bereits im Büro von Herrn Will.“ Auch das noch! Celice erhob sich. Wenn sie nach Hause gefahren wäre, hätte sie Henry sicher noch gesehen. Vielleicht wäre alles anders gekommen. Während Frau Stieling schon wieder telefonierte und sich voll ihrer Arbeit widmete, wollte Celices Gedankenkarussell nicht schweigen. Eine schreckliche Eingebung formierte sich in ihr. Hatte Henry sie und Jade etwa beobachtet und sich vielleicht deswegen umgebracht? Mein Gott! Sie war wirklich Schuld? Mit versteiften Gliedern versuchte sie sich aus dem Büro zu bewegen.
„Und denken Sie an das Fotoprojekt!“, rief ihr die Chefin noch hinterher. Na klasse! Die Welt drehte sich weiter. Ihr Job stand weiterhin auf dem Spiel. Auch wenn Henrys Tod Jeanine runtergerissen hatte, sie würde um den Job kämpfen.
Das silberne Namensschild war noch nicht ausgetauscht. Wie eine Schülerin, die es nicht wagte in das Lehrerzimmer zu gehen, stand Celice da. Als sie es poltern hörte, zuckte sie mit der Hand zurück und verharrte in der Bewegung. Wie sehr wünschte sie sich, dass es Henry war. Jetzt, wo alles zu spät war, hätte sie sich so gern erklärt. Doch niemand würde ihr zuhören. Sie bohrte ihre Nägel in die Handfläche und drückte die Klinke.
Das Büro war leer? Seltsam, sie hatte doch gerade noch etwas gehört? Mit erhobenen Brauen musterte sie den Raum. Da Henry gerade erst eingezogen war, hatte er es noch nicht richtig eingerichtet. Nur ein großer Schreibtisch und ein seitlich gedrehter Stuhl standen waagerecht zum Panoramafenster im Raum. Langsam trat sie ein. Erneut rumpelte es direkt hinter dem Tisch und der Stuhl drehte sich mit der Sitzfläche weiter zum Fenster. War das Henrys Geist? Als ein Schatten hochfuhr, stieß Celice einen spitzen Schrei aus und sprang einen Schritt zurück.
„Ja, ick weeß, dass ick verdammt jut aussehe. Aber du musst nich gleich in Ohnmacht fallen, Schätzchen.“ Schätzchen? Celice richtete sich auf und löste ihre Hand von den Lippen und verzog sie entrüstet. Leon! Hätte sie sich ja denken können! Er würde sich wohl nie ändern. „Setz dich.“ Damit stellte er ihr einen Holzstuhl hin, der hinter einem Eckpfeiler gestanden hatte. Also doch das Lehrerzimmer! Nachdem sie beide Platz genommen hatten, fiel ihr auf, dass Leon im schwarzen Anzug vor ihr saß. Zusammen mit seinen Piercings, den Ohrringen, seiner goldenen Kreuzkette und den Tattoos, die auf den Händen prangten, gab er ein seltsames Bild ab. Celice war sich sicher, dass er sich den Anzug nur geliehen hatte. Jemand wie er hatte zwar jede Menge Markenklamotten im Schrank, aber so einen Fummel mit
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