Der lächelnde Henker
gesehen!«
»Und wie sah sie aus?«
»Die Frau hatte schwarze Haare, ein bleiches Gesicht, und aus ihrer Stirn wuchsen zwei Schlangen!«
Heinz Ansion verzog den Mund. »Mehr nicht?«
»Doch.«
»Was denn?«
»Sie war nackt!«
Heinz Ansion pfiff durch die Zähne. »Muß ein toller Anblick gewesen sein, so ein reifes Weib ohne Kleidung in einem einsamen Burgverlies zu sehen. Schade, ich dachte schon es wäre die berühmte Weiße Frau gewesen. Aber vielleicht spukt die auch noch hier herum.«
Anke Witte würde wütend und stampfte mit dem rechten Fuß auf.
»Verdammt noch mal, du sollst darüber nicht deine Witze machen. Mir ist es ernst genug damit.«
»Okay, okay, ich habe verstanden, daß du die Frau gesehen hast.«
»Ja.«
»Und mit den Schlangen am Kopf.«
»Auch das.«
Heinz Ansion hob die Schultern. Er schaute an seiner Freundin vorbei, erkannte im grauen Rechteck der Toröffnung die Gestalten seiner Freunde und winkte ihnen zu. »Wir kommen!« rief er, bevor er sich an Anke Witte mit den nächsten Worten wandte: »Reiß dich nur zusammen, Mädchen. Wir wollen den anderen keine Schau bieten.«
»Aber was soll ich sagen?«
»Das erledige ich schon.«
Die Mitglieder der Clique empfingen die beiden mit zahlreichen Fragen. Jeder wollte wissen, was es gegeben hatte, und Heinz meinte nur:
»Anke hat sich erschreckt.«
»Vor wem denn?« fragte Jürgen Fleischberger.
»Da war ein Vogel, der plötzlich losflatterte. Kann ja jedem mal passieren - oder?«
»Sicher, sicher«, meinte Oliver Roos, »aber wenn ich einen Vogel sehe, schreie ich nicht so. Das hat man ja bis weit nach draußen gehört.«
»Sie ist eben schreckhaft.«
»Nein«, sagte Anke. »Ich habe nicht nur einen Vogel gesehen, sondern auch etwas anderes. Eine Gestalt, damit ihr es alle wißt.« Und sie erzählte den Freunden das gleiche, was sie auch schon Heinz berichtet hatte.
Voller Staunen wurde Anke Witte angestarrt. »Das ist doch nicht möglich«, sagte Wolfgang C. Bischoff. »Das kann ich mir nicht vorstellen.« Er schaute in die Runde. »Ihr vielleicht?«
Wolfgang erntete nur fragende Blicke und Schulterzucken. Jürgen Fleischberger schlug vor: »Wir können ja alle mal nachschauen, ob es tatsächlich so gewesen ist. Vielleicht finden wir die Gestalt. Ich habe schließlich auch die Feuerstelle gesehen, als wir aus dem Boot stiegen. Kann doch sein, daß sich jemand hier versteckt hält.«
Heinz Ansion machte eine wegwerfende Handbewegung. »Diese komische Frau mit den Schlangen auf dem Kopf existiert sowieso nur in Ankes Einbildung, wenn ihr mich fragt.«
Das Mädchen riß sich von seinem Freund los. »Es war keine Einbildung, Mann, begreife das endlich.« Anke tippte mit dem Finger gegen die Stirn.
»Ich bin doch nicht blöd und kein Hirni.«
Die anderen lachten, als sie diesen Ausdruck gebrauchte. So entspannte sich die Lage wieder ein wenig.
Schließlich meinte Wolfgang C. Bischoff. »Egal, Freunde, auch wenn sich eine Frau oder Schlangenbeschwörerin auf der Insel herumtreiben sollte, steht sie immer noch allein. Wir allerdings sind sechs Jungen und ein Mädchen. Außerdem zählt Heinz für zwei. Da sollten wir das Weib schon schaffen können, wenn es was will.«
Er erntete beifälliges Nicken. Nur Anke Witte hatte etwas zu sagen.
»Mich kriegt ihr in den Bau nicht mehr rein«, erklärte sie mit fester Stimme.
»Brauchst du auch nicht, Mädchen«, sagte Heinz. Er legte wieder seinen Arm um die Schultern des Mädchens. »Du hast dich ja gemeldet, um Tee zu kochen. Ich glaube, wir könnten jetzt jeder einen Schluck vertragen, oder was meint ihr?«
»Ja!« rief Volker Jungbluth. »Anke kann uns eine Kanne Tee kochen. Los, Leute, packt die Sachen aus. Holz haben wir inzwischen genügend gesammelt.«
Die anderen Mitglieder der Gruppe ließen sich nicht lange bitten. Sie packten fest mit an. Bis auf Anke Witte. Sie stand ein wenig abseits und schaute mit furchtsamen Blicken auf das alte Gemäuer. Wohl fühlte sie sich nicht in ihrer Haut. Wenn sie ehrlich war, dann mußte sie zugeben, daß sie schon Angst hatte.
Und das nicht zu knapp…
***
Hinter Suko und mir lag eine regelrechte Herbstfahrt. Da wir Lindfield nicht auf dem Motorway erreichen konnten, nahmen wir den Weg durch das herbstlich gefärbte Land.
In den letzten Tagen hatten wir ein ruhiges Wetter erlebt. Das schien sich nun zu ändern. Die Luft war feuchter geworden. Über den Wiesen lagen lange Nebelschleier. Noch sahen sie aus wie durchsichtige Fahnen,
Weitere Kostenlose Bücher