Der Lange Weg Des Lukas B.
Küste war im Osten aufgetaucht und sie segelten dicht unter dem Horn von Skagen aus der Ostsee in die Nordsee. Das Wetter war anhaltend sonnig. Die Passagiere verbrachten den größten Teil des Tages auf dem Vorderdeck und waren guter Dinge. Der alte Mann hatte den Zimmerleuten angekündigt, dass er selbst den Englischunterricht fortsetzen wolle, damit nicht alles wieder verlernt werde. Jeden Morgen nach dem Frühstück wiederholte er eine Stunde lang, was der Pfarrer ihnen beigebracht hatte. Weil aus dem Steerage die frommen Sprüche heraufklangen und zahlreiche mit »O my Lord« und »Halleluja« geschmückt waren, glaubten die Matrosen und Passagiere, es handle sich um ein ausgedehntes Morgengebet. So kamen die Zimmerleute in den Ruf sehr fromme Männer zu sein.
Der Kapitän ließ am Nachmittag ausrufen, dass die »Neptun« mit dem 58. Breitengrad den nördlichsten Punkt der Reise erreicht habe. Wenig später entdeckte der Junge endlich den Segelmacher. Er war ein hohlwangiger Mann. Die Augen erschienen groß in dem hageren Gesicht und wurden von dünnen, schattigen Lidern halb bedeckt. Vornübergebeugt im Schatten des Focksegels saß er und nähte Schlaufen an ein schweres Segel. Die linke Hand wurde von dem steifen Tuch bedeckt und mit der rechten stach er die große Nähnadel langsam ein und zog das dicke Garn nach jedem Stich fest an. Schon diese Bewegung schien ihn anzustrengen. Unvermittelt schüttelte ihn ein trockener Husten. Dabei lief ihm eine Tränenspur über das Gesicht. Er machte sich jedoch nicht die Mühe sie abzuwischen.
Der Junge schaute ihm bei seiner Arbeit zu. Die Hand war langfingrig und knochig. Obwohl jeder Stich sicher geführt wurde, schien sie ohne Kraft. Blau und dick lagen die Adern auf Hand und Arm.
Schließlich schnitt der Segelmacher das Garn ab und verknotete das Ende. Dabei sah der Junge zum ersten Mal die linke Hand des Mannes. Ein Schreck durchzuckte ihn bis in die Fußspitzen. Auf dem Handrücken des Segelmachers befand sich die Blaustich-Tätowierung, die Nathan ihm beschrieben hatte, eine Frau mit einem Fischschwanz. Bei jeder Bewegung der Finger schien die Nixe sich zu rühren und den Schuppenschwanz leicht hin und her zu schlagen. Der Junge zerrte unter seinem Hemd das Medaillon hervor und streifte es über den Kopf. Er öffnete es hastig und hielt es dem Segelmacher unter die Augen. Der ließ das Tuch sinken und schaute den Jungen an.
»Schöne Bilder«, sagte der zögernd. »Warum zeigst du mir die Miniaturen?«
»Ich habe sie von dem jüdischen Händler Nathan gekauft«, antwortete der Junge aufgeregt. »Kennen Sie das Medaillon nicht?«
»Ein Medaillon wie tausend andere«, wich der Segelmacher aus. »Schöne Miniaturen, nicht wahr?«
»Nathan hieß der Händler«, wiederholte der Junge.
»Jaja, die Juden handeln manchmal mit Schmuck.«
»Er hat es von einem Matrosen in Danzig bekommen.«
Der Segelmacher antwortete nicht.
»Der Matrose hatte auf der Hand eine Tätowierung, eine Nixe.«
»So wie diese hier?«, fragte der Segelmacher und hob seine linke Hand.
»Ja, so wie die, die Sie auf der Hand haben.«
»Ich kenne viele Seeleute, die sich tätowieren lassen. Nixen auf der Hand sind nicht gerade selten. Aber so einen feinen Blaustich wie den auf meiner Hand, den findest du kaum einmal. In Hongkong habe ich mir die Nixe vor über zwanzig Jahren von einem Meister tätowieren lassen.«
»Haben Sie Nathan das Medaillon verkauft?«
Der Segelmacher schob seine Arbeit zur Seite und schaute den Jungen aus müden Augen an. »Was forschst du mich aus, Söhnchen? Du hast ein Medaillon. Schön. Ein Jude hat’s dir verkauft. Schön. Hast du ihm eine Geschichte mitbezahlt? Hat er dir gesagt, das Ding wird dir Geschichten erzählen?«
»Ich möchte wissen, ob Charly die Bilder gemalt hat.«
»Was weißt du schon von Charly?«, seufzte der Segelmacher. Ein neuer Hustenanfall überfiel ihn. Als er nach einer Weile wieder ruhiger zu atmen vermochte, nahm er das Medaillon in die Hand, rieb sich das Wasser aus den Augen, betrachtete es genau, zuckte die Schultern und gab es dem Jungen zurück. Er begann ein Ende des Garns in das Öhr der groben Nadel einzufädeln.
»Erzählen Sie mir von Charly, bitte.«
»Ich kann dir nichts erzählen, Junge. Mein Mund ist ausgedörrt. Wenn das Wetter gut bleibt, wirst du mich immer hier unter der Fock finden. Bringe mir etwas Scharfes für meinen trockenen Hals. Das schmiert die Kehle und lockert die Stimmbänder. Vielleicht fallen
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