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Der letzte Aufguss

Der letzte Aufguss

Titel: Der letzte Aufguss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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war weiß gestrichen, davor standen sieben
Tischchen mit Korbstühlen. Wegen des schlechten Wetters saßen die Gäste
allesamt drinnen hinter den großen, bodentiefen Fenstern, die mit einem Bild
von Auntie bemalt waren. Eine Frau im traditionellen Gewand mit traditioneller
englischer Oberweite, die ein Tablett mit Teekanne vor sich trug. Sie sah nett
und herzlich aus.
    Drinnen war es brechend voll. Unmengen nasser Menschen aßen
Sandwiches und Scones zu ihrem Tee. Ein Blick genügte Pit, um den White Darjeeling
Tee zu entdecken, der in einem Glaszylinder am Eingang präsentiert wurde. Genau
der hatte in der Küche des Professors gestanden.
    Pit ging näher heran, um das Haltbarkeitsdatum lesen zu können. Noch
zwei Wochen.
    Er stellte sich an die Theke. Serviererinnen in schwarzen Kleidern
mit weißer Schürze wuselten herum und beäugten ihn argwöhnisch. Eine davon
sprach ihn schließlich an: »Zur Zeit ist leider nichts frei.«
    Mindestens drei Tische waren unbesetzt.
    Â»Verarschen kann ich mich selber. Die da sind doch frei.«
    Â»Reserviert.«
    Â»Ich will sofort mit Auntie sprechen. Sonst rühr ich mich nicht vom
Fleck. Selbst wenn Sie die Polizei, die Männer mit den weißen Jacken und den
Kammerjäger rufen.«
    Inzwischen hatten sich etliche Köpfe dem auffälligen Rocker zugewendet.
    Â»Sie wollen also Auntie sprechen?«
    Â»Jawoll. Und zwar augenblicklich.«
    Gut, das war jetzt nicht der klassische Beginn eines
Vorstellungsgesprächs, aber man musste ja auch mal innovativ sein dürfen.
Natürlich war Pit klar, dass er die Sache schon jetzt völlig verbockt hatte und
ihm eine Strafpredigt des Professors bevorstand. Aber er hatte auch seinen
Stolz.
    Â»Kommen Sie bitte mit«, sagte die Serviererin, und führte ihn durch
eine Schwenktür in die Küche.
    Dort sprach sie mit einer jungen Frau, vielleicht Ende zwanzig,
höchstens Anfang dreißig. Sie hatte ihre dunklen Haare zu einem Pferdeschwanz
gebunden und wirkte durchtrainiert. Da sie eine Dreiviertelhose trug, fiel Pit
sofort auf, dass die linke Wade, also das Sprungbein, etwas muskulöser war. Es
war ein minimales Ungleichgewicht. Bei Basketballern, die mit beiden Beinen
gleichzeitig absprangen, war das nicht der Fall. Und eine springende Sportart
musste es sein, darauf ließ der Aufbau der Wadenmuskulatur unweigerlich
schließen. Also tippte er auf Handball. Der Professor mochte mit einem Blick
sehen können, ob ein Tee perfekt gebrüht war. Pit hingegen konnte viel über
einen Menschen sagen – nur anhand der Art und Weise, wie jemand in sein Taxi
stieg. Wenn der Gast sich hinsetzte, spürte Pit, wie weit sich die Stoßdämpfer
zusammenzogen, und konnte das Gewicht auf das Kilo genau nennen. Diese Frau war
kein Gramm schwerer als dreiundfünfzig Kilo. Darauf hätte er ein halbes
Schwein, eine große Krakauer und eine Dose Landleberwurst gewettet. Und bei
einem so hohen Einsatz musste er sich verdammt sicher sein.
    Ihre Haut war englisch blass und übersät mit Sommersprossen, und
ihre Laune war miserabel.
    Â»Sie wollten also Auntie sprechen und haben dafür den ganzen Laden
in Aufruhr gebracht? Ich bin Auntie, und Sie fliegen jetzt raus.«
    Pit mochte ihre Stimme. Zart und doch kraftvoll.
    Â»Ich bin Pit Kossitzke und wegen der Anzeige gekommen. Wir haben
einen Termin. Ich arbeite jetzt hier.«
    Â»Ach ja? Meinen Sie ernsthaft, Sie passen hier rein?«
    Â»Jau. Ich pass überall rein. Mein zweiter Vorname ist Ölsardine.«
    Der Anflug eines Lächelns zeigte sich in ihrem Mundwinkel. Es wäre
sicher ein wunderschönes Lächeln gewesen, wenn es sich ganz entfaltet hätte. »Hier
werden aber auch alte Damen bedient.«
    Â»Ich liebe alte Damen, am liebsten wäre ich selbst eine.«
    Â»Und Kinder.«
    Â»Denen geb ich einen Lolly. Oder nehm ihnen einen weg. Je nachdem,
was angebracht ist.«
    Auntie kam einen Schritt näher. »Hm, in Cambridge hat kein Laden
eine Bedienung wie Sie. Das würde für Gesprächsstoff sorgen.« Sie drehte sich
zu der Serviererin um, die immer noch hinter ihr stand. »Ich will ihn. Hol
Kevin, er soll seinen Segen geben.« Sie wandte sich wieder an Pit. »Ihm gehört
das Auntieʼs und auch der Tea Shop in der Trinity Street. Dort verkauft er
richtig exklusive Sachen – grünen Tee, Mate, alten Pu-Erh, so was. Bis er
kommt, stellst du dich da in die

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