Der letzte Karpatenwolf
König?« Mihai Patrascu schüttelte den dicken Kopf. »Mir hat der König noch nicht geschrieben. Zieh weiter, Zigeuner!«
Stepan Mormeth schluckte das. Sonja, dachte er. Für Sonja muß man alles auf sich nehmen können. Es gibt keine Beleidigung, die Sonja aufwiegen könnte. Es gibt überhaupt nichts, was mich ergreifen könnte, als sie.
Er stellte seinen Rucksack mitten in das Zimmer und sah Patrascu kampfeslustig an.
»Befehl ist eben Befehl, Mihai Patrascu. Willst du gegen einen Befehl aus Bacau angehen? Das rate ich dir nicht! Noch haben wir einen Kriegszustand!«
»Geh dahin, wo du früher warst!« schrie Patrascu. »In meinem Haus braucht kein Militär zu liegen!«
»Wir müssen Platz machen für die russischen Brüder, Mihai.«
Patrascu sah ein, daß er nachgeben mußte.
»Trag dein Bündel hinten in die Kammer. Aber eines sag ich dir: Bei der ersten Berührung Sonjas spalte ich dir mit der Axt den braunen Schädel!«
»Es wird ihr nichts geschehen. Mein Wort, Mihai.«
»Und ich will dich nur zum Schlafen hier sehen! Am Tage fliegst du 'raus!«
»Einverstanden. Mir geht es ja um die Nacht.«
Mihai Patrascu hob die buschigen Augenbrauen. »Was soll das wieder heißen?«
»Ich will euch schützen vor den Russen, Mihai. Das ist die lautere Wahrheit, bei der Mutter Gottes! Ich will Sonja schützen.«
»Gut, gut«, brummte Patrascu. »Wenn's gelingt, bekommst du jeden Abend ein gutes Essen. An einem Hühnchen soll's nicht liegen .«
»Und an einem Tanz mit Sonja?«
»Das wäre noch auszuhandeln.« Patrascu lächelte gequält. »Kein Korn wächst über Nacht.«
Stepan Mormeth war mit dem zufrieden. Er ging in die zugewiesene Kammer, schaute noch etwas aus dem Fenster, bis der Mond aus den Wolken hervorbrach, dann kroch er in sein Bett und legte die Maschinenpistole neben sich auf die Erde. Griffbereit, entsichert.
Wenn es um Sonja ging, würde er kein Erbarmen kennen.
Am sechsten Tag der russischen Besatzung geschah etwas Unvorhergesehenes.
Die Soldaten begannen bei Einbruch der Dunkelheit das Dorf zu durchsuchen. Auch die Miliz mußte mithelfen. Sosehr sich Mormeth bemühte, in die Nähe des Patrascu-Hauses zu kommen, es gelang ihm nicht. Er suchte am anderen Ende des Dorfes.
Anlaß war eine simple Anzeige eines Unbekannten beim Distriktkommissar Jon Lupescu. »In Tanescu haben sie unter Umgehung des Abgabeplanes zwei Schweine heimlich geschlachtet.« Weiter nichts. Kein Name des Anzeigenden, kein Name des Übeltäters. Aber immerhin eine Anzeige.
»Saboteure!« schrie Lupescu. »Immer dieses Tanescu! Sie sabotieren den friedlichen Aufbau des Volksstaates! Ich lasse das ganze Dorf untersuchen.«
So geschah es. Man kämmte alles durch … jeden Stall, jeden Verschlag, jeden Keller, jedes Haus, jedes Loch, sogar die letzten Kapusta- und Kartoffelmieten … nichts sollte den suchenden Augen entgehen.
Bei den Patrascus war gerade der alte Arzt Georghe Brinse zu Gast. Er hatte Michael untersucht und ihn für völlig gesund befunden. Im Hinterzimmer aßen sie alle zusammen und tranken einen roten leichten Wein.
Sonja, die in der Küche einen Braten machte, kam plötzlich in die Kammer gestürzt. Ihr Gesicht war entstellt vor Entsetzen.
»Soldaten!« schrie sie. »Russen! Im Nebenhaus … sie untersuchen alles! O Gott! O Gott!« Sie lief zu Michael und umklammerte ihn.
Es blieb keine Zeit mehr, lange zu überlegen. Ehe Patrascu begriff, was auf der Straße vorging, donnerten Gewehrkolben an die verschlossene Haustür. Einige Stimmen brüllten.
»Aufmachen! Dawai! Dawai!«
»Er muß sofort weg!« sagte Brinse ruhig. Er riß das Fenster auf. Es ging hinaus zum Hof und zu der Scheune. Gleich dahinter begannen die Felder. »Los, spring! Lauf erst in das Feld und dann in einem Bogen zur Wiese. Zum blöden Grigori! Ich hole dich morgen wieder ab! Nun lauf schon!«
Sonja hielt Michael noch immer fest. Sie krallte sich an ihn, als ertrinke er und sie könne ihn zurückreißen aus dem niederziehenden Strudel.
»Mihai!« wimmerte sie. »Mein Mihai …«
»Spring!« schrie Georghe Brinse. An der Haustür hämmerten wieder die Gewehrkolben.
Michael riß sich von Sonja los. Er kniete sich auf die Fensterbank … noch einmal sah er zurück auf Sonja. Sie hielt die Arme ausgestreckt. In ihren Augen stand eine Trauer und Verzweiflung, die ein Mensch nur einmal im Leben ertragen kann. Dann stieß er sich ab, flog durch die Nachtluft, landete auf einem Strohballen, rappelte sich auf und hetzte in weiten
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