Der letzte Vampir
aus ihrer Hand und verschwand in der Dunkelheit. Sie konnte nicht sehen, wo sie landete, da sie selbst durch die Luft flog. Sie krachte hart gegen einen weiteren Grabstein, der kaum noch mehr als eine Felskante darstellte, die wie ein verfaulter Zahn aus dem Boden ragte. Ihr Ellbogen kollidierte mit dem Stein, und ein wilder Schmerz durchzuckte ihren Arm. Sie glaubte nicht, dass sie sich etwas gebrochen hatte – sie hatte sich nur den Musikknochen gestoßen.
Als sie wieder stehen konnte, hatte Scapegrace ein ein Meter tiefes Loch gegraben. Die Knochen und Sehnen ihrer Hand summten noch immer vor Schmerz, aber sie würde funktionieren. Doch ihr wurde bewusst, dass sie weinte, als er eine Holzkiste aus dem Boden hob. Sie konnte es nicht ertragen – hin- und hergerissen zwischen ihrer Furcht und seinem schrecklichen Vorhaben, glaubte sie schreien zu müssen, blindlings weglaufen zu müssen, obwohl sie genau wusste, dass er sie einholen würde.
Die Kiste war aus hellem Holz, möglicherweise Kiefer, das mit Wurmlöchern übersät war. Sie war so zerfallen, dass man unmöglich feststellen konnte, ob sie verziert oder nur ganz schlicht gewesen war. Der Säuglingssarg zerbrach in Scapegraces Händen, obwohl er offensichtlich versuchte, sanft damit umzugehen. Er wischte die Fragmente aus feuchtem Holz und Dreck und Sediment beiseite, die sich um die darin liegende Leiche gesammelt hatten.
»Meine Familie hat für mich ein großes Begräbnis veranstaltet«, erzählte er. »Irgendwie konnte ich das alles sehen, als wäre ich ein Geist, der an der Kirchendecke schwebt. Jeder aus meiner Schule war da, und sie gingen vorbei und schauten mir ins Gesicht, und einige weinten, und andere sagten ein paar Worte. Teilweise waren es Leute, die ich nicht einmal kannte. Mädchen, die im Flur nicht mit mir geredet hätten, auch nicht, wenn sie nur einen Stift gebraucht hätten. Manche waren wirklich betroffen, als hätten sie endlich begriffen, was sie mir angetan hatten. Das war schon irgendwie beeindruckend. Aber niemand wollte mich berühren.« Sanft strich er Holzreste von dem winzigen Körper.
»Bitte«, sagte Caxton. Das Wort kam bemüht und krampfhaft aus ihr heraus. »Bitte. Bitte.« Er schlug sie nicht, aber er hörte auch nicht auf. Er schüttelte den Sarg, und Holz und Erde und andere Dinge bröckelten zu Boden.
Ihr schoss der Mageninhalt in die Kehle, und sie wandte sich ab, beschämt, solche Respektlosigkeit zu zeigen, aber doch unfähig, es zu unterdrücken.
»Wenn du auf der anderen Seite bist, dann verliert der Tod seinen Schrecken. Tatsächlich wird er sogar irgendwie faszinierend. Das gilt für vieles, wenn man zum Vampir wird. Es verändert deine gesamte Perspektive.« Er hielt etwas Rundes in der linken Hand, etwas von der Größe eines Apfels. Mit einem Ruck entfernte er es aus dem Sarg. Der Rest der Säuglingsgebeine kam zurück in das Loch, und er trat Erde darüber. Dann drehte er sich um und zeigte ihr, was er da gefunden hatte.
Es war der Schädel. Stephen Delancys Schädel, der hundertfünfzig Jahre im Grab gelegen hatte. »Sieh mal«, sagte er. »Er war nur ein paar Tage alt, als er starb.« Er zeigte ihr den Schädel. Erde klebte daran sowie getrocknete Flüssigkeiten. Es war ein schrecklicher, Übelkeit erregender Anblick. »Vielleicht ist er nie richtig geboren worden.« Er musterte die Hirnschale des Babys eingehend. »Ja, das wird funktionieren.« Er rieb mit den Daumen über den Schädel und starrte dann tief in die leeren Augenhöhlen, während er leise summte. Sie verstand die Worte nicht – sie war sich nicht einmal sicher, ob es überhaupt Worte waren.
Als er fertig war, schloss er die Augen, dann streckte er die Hand aus. Der Schädel balancierte auf der weißen Handfläche. Einen Moment später fing er an zu vibrieren. Seine Umrisse verschwammen. Ein Laut drang aus ihm hervor, eine Art wimmerndes Stöhnen, das der Schädel unmöglich selbst hervorbringen konnte – er verfügte doch nicht einmal über einen Unterkiefer. Der Schrei wurde immer lauter, bis Caxton sich die Ohren zuhalten wollte. Stattdessen drückte Scapegrace ihr das Ding in die Hände. »Nimm ihn«, sagte er, und sie konnte ihn mühelos über das Kreischen hinweg verstehen. »Mach schon – meine Ohren sind empfindlicher als deine. Nimm ihn!«
Sie nahm ihn in die Hände, und das Geschrei verstummte augenblicklich.
»Ich werde dich mitnehmen, zurück in ihren Schlupfwinkel. Aber du musst dich benehmen. Also werden wir
Weitere Kostenlose Bücher