Der Mann aus Israel (German Edition)
klopft
dumpf. Ich fühle mich wie eine grell geschminkte Hure in dieser
abgeschlossenen, starren Welt. Ein ungebetener, unerwünschter Gast. Ein Voyeur.
Weshalb bin ich nur mit hierher gegangen? Du bist nichts als eine frivole
Europäerin . Wieso fällt mir das jetzt ein? Lachend hatte Raffael diesen
Satz zu mir gesagt. Gestern Abend. Das ist der erste beschnittene Penis, den
ich sehe, hatte ich amüsiert zu meinem Geliebten gesagt, Du bist
überhaupt der erste Jude in meinem Leben.
Ich sitze am Ende der Reihe, an meiner Seite Frauen in Pumps
und mit kleinen Hüten auf den Dauerwellen, mir gegenüber nur schwarze
Hosenbeine. Männer und Frauen trauern vereint, nach Geschlechtern geordnet.
Vorsichtig hebe ich meinen Blick und taxiere die Männerriege. Keiner trägt
Schläfenlocken, Bart oder einen Streimel , den pelzbewehrten Hut der
Frommen. Vertraut sehen sie irgendwie aus, hellhäutig, schlank, mit gestochen
scharfen Gesichtszügen. Wie die Geschäftspartner meines Vaters in ihren dunklen
Anzügen und ihrem ernsthaft vornehmem Gebaren. Deutsch.
Was nur macht sie mir dann so fremd? Meine Blicke wandern
umher. Endlose Gebete, langweilige Trauerbesuche, öde Liturgien. Das alles
kenne ich auch, bin tausendmal in harten Kirchenbänken gekniet, gestanden,
gesessen. Immer fahrig, nie ganz dabei, die klebrige Hostie als peinlich
empfindend. Den wichtigsten Teil meiner selbst, die Seele, haben fromme
Traditionen nie erreicht.
Ich betrachte jeden einzelnen der Männer mir gegenüber
genau. Unter den Greisen sitzen auch Männer um die vierzig, Teenager, Knaben.
Wie von einem unsichtbaren Gewebe tiefer Übereinstimmung umgeben, hocken sie in
Andacht versunken auf ihren Schemeln. Die Ernsthaftigkeit ihrer Gebete, der
Gebrauch der längst verwehten Sprache, das Wiederholen von Texten, so alt wie
Abraham und Jesaja, scheint sie mit einer unzerbrechbaren Eisenkette aus
Traditionen zusammenzuschweißen. Nichts Frömmlerisches oder Aufgesetztes kann
ich in den Gesichtern der Männer entdecken. Nach innen verlagert ist ihr Wesen,
die äußere Hülle für Momente zurücklassend, um der verwandten Toten den Weg ins
Jenseits mit höchster Sammlung zu erleichtern. In einem der Gesichter erkenne
ich Raffael. Ist er es wirklich? Ich muss zweimal hinschauen, um sicher zu
sein. Grau und schmal, die Augen halb geschlossen, ganz der Konzentriertheit
des Totenzeremoniells hingegeben, sitzt er zwischen seinesgleichen. Sprach er
nicht vorhin von lästiger Pflicht? Die jahrtausendealte Verwurzelung mit seinem
Volk hat das fleischige Tier aus ihm verdrängt. Die gierigen Lippen meines
warmen Geliebten flüstern Gebete, der erregende Blick seiner smaragdenen Augen
ist einer spirituellen Fahlheit gewichen. Die Judenkappe sitzt fest auf seinem
Hinterkopf. Jude, denke ich plötzlich, Raffael ist zuallererst immer Jude. Ein
Jude in Israel. Für ihn es das das einzige, was zählt. Ich liebe unser Land
und bin bereit, jeden, der es uns wegnehmen will, kaltzumachen. Blitzartig sehe
ich, wie sich eine unüberwindbare Mauer zwischen uns aufrichtet. Werde ich sie einreißen
können? Oder übersteigen? Wird er es mir gestatten? Reicht es, dass ich ihn
liebe?
Mit einem Mal friert es mich. Wie eine kalte Schicht blauen
Eises legt sich die Fremdheit zwischen diese Menschen und mich.
„Nachdem Dir Hedwig sicher nichts davon beigebracht hat, was
uns betrifft, sprechen wir das Kaddisch für Dich auf Deutsch.“ sagt
plötzlich einer der trauernden Greise und schaut mich dabei ausdruckslos an. „Raffael,
würdest Du bitte so freundlich sein.“
Raffi zögert einen Moment. Die alte Wut ist in seine Augen
zurückgekehrt. Los, lies schon, befehle ich ihm stumm und ignoriere seinen
gegnerischen Blick. Du warst es, denke ich zornig, Du hast mich zur Cousine
gemacht. Ich wäre lieber gleich als Goj aufgetreten, als die Christin,
die Deine Frau sein wird. Das musst Du jetzt wieder in Ordnung bringen. Ohne
mich. Deiner Sippe musst Du unsere Lüge selbst beichten.
„... Erhoben und geheiligt werde sein großer Name in der
Welt, die er nach seinem Willen erschaffen, und sein Reich erstehe in eurem
Leben und in euren Tagen und dem Leben des ganzen Hauses Israel schnell und in
naher Zeit, sprechet: Amen ...“ . Raffael spricht die vielen geheiligten
Worte leise. Mich wundert in dem langen Text, dass der Tod nicht ein einziges
Mal erwähnt wird, obwohl es ein Totengebet ist. Mir scheint es eher eine Hymne
auf das Leben zu sein.
Nach dem letzten Amen wendet sich
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