Der Marathon-Killer: Thriller
angeboten, sie bei einem Besuch zu begleiten, aber sie wollte nicht, dass er seinen einzigen Eindruck von ihrer Mutter gewann, als sie schon nicht mehr ganz bei sich war.
»Du warst gestern gut. Hoffentlich hat Fielding dir das gesagt«, meinte Leila, die sich wieder gefasst hatte und zur Frisierkommode hinüberging. »Du hast ein großes Unglück verhindert.«
»Ohne deine Hilfe hätte ich es nicht geschafft«, sagte Marchant und zögerte. »Pradeep hatte einen Sohn. Er hat mir ein Foto gezeigt.«
Jetzt holten ihn die Ereignisse vom Marathonlauf ebenfalls ein. Leila spürte die Veränderung seiner Stimme. Sie kehrte zum Bett zurück und streichelte seinen Hals. »Die wollten den Jungen umbringen, wenn er die Sache nicht durchzieht«, fuhr Marchant fort. »Was meinst du, haben die es getan?«
»Er ist bei der Ausführung seines Auftrags gestorben, und der London Marathon wurde zum ersten Mal in seiner Geschichte abgebrochen. Wahrscheinlich nicht.«
Leila war wieder ganz die Alte: unsentimental. Marchant war erleichtert. Ihre professionelle Ausstrahlung baute Distanz zwischen ihnen auf und mahnte ihn, sich nicht das Herz brechen zu lassen. Dass sie gerade so viele Gefühle gezeigt hatte, verwirrte ihn. Es hatte in ihm den Wunsch geweckt, weiter über den Lauf zu sprechen, über das beharrliche Piepen von Pradeeps GPS, darüber, wie ein so harmloses Geräusch die Ankündigung ihrer beider Tod hätte sein können, über die Aufregung, wieder an einer Operation teilzunehmen, und wie überraschend schwer sich Pradeeps Leiche in seinen Armen angefühlt hatte. Durch ihre Beherrschtheit gewann auch er mehr Abstand zu den gestrigen Ereignissen. Das war, wie er wusste, die einzige Möglichkeit, in diesem Job zu überleben.
»Fielding hat außerdem über meinen Vater geredet«, sagte Marchant und bewegte seine schmerzenden Glieder. »Meine Beine bringen mich um.«
»Gibt es Neuigkeiten?« Leila stand auf, ging zur Frisierkommode und trocknete sich das Haar.
»Die Amerikaner setzten Bancroft unter Druck. Es scheint, als hätten sie etwas über meinen Vater ausgegraben.«
»Die Amerikaner?«, fragte sie und drehte sich zu ihm um. »Was haben die denn damit zu tun?«
Marchant erzählte ihr, was er von Fielding erfahren hatte: dass Lord Bancroft vom MI5 unter Druck gesetzt wurde, seinen Vater als Maulwurf zu identifizieren, und dass die Amerikaner glaubten, er habe sich vor den Anschlägen auf die Botschaften in Delhi und Islamabad mit Salim Dhar getroffen.
»Ich kann mich an die Leica erinnern«, fuhr Marchant fort. »Die war ein echtes Museumsstück, wunderschön. Er hat sie mir einmal gezeigt, zu Weihnachten, kurz nachdem ich beim Service angenommen worden war.« Er zögerte. »Im Augenblick wird es deiner Karriere nicht besonders guttun, wenn du dich mit mir herumtreibst, das weißt du selbst. Ich denke, du solltest dich eine Weile von mir fernhalten.«
Sie sah ihn im Spiegel an. Ihr Blick wanderte an seinem Körper nach unten. »Ich höre doch nicht wegen des MI5 auf, mit dir ins Bett zu gehen.«
»Danke für die Treue, aber die wird dir nichts einbringen. Mehr sage ich ja nicht.« Er stand vom Bett auf, stellte sich hinter Leila und legte seine Hände um ihre nackten Brüste, während sie beide sich im Spiegel betrachteten. Sein Kinn ruhte auf ihrer Schulter. »Wenn sie meinen Vater verdächtigen, können sie auch mich ins Visier nehmen.«
»Ich dachte, der Vikar will dich zurück«, sagte Leila, drehte ihr Gesicht zur Seite und küsste ihn. »Besonders nach dem gestrigen Tag.«
»Ja, doch die Entscheidung wird vielleicht nicht bei ihm liegen, wenn Bancroft etwas gegen meinen Vater findet.«
»Dein Vater konnte mich nie leiden, oder?«, fragte Leila und befreite sich aus Marchants Armen, um Mascara aufzutragen.
»Das stimmt nicht.«
»Als wir zum Mittagessen zu eurem Haus aufs Land gefahren sind, hat er sich in meiner Gegenwart nicht wohlgefühlt. Er war schon fast unhöflich.«
»Er war meinen Freundinnen gegenüber misstrauisch, so wie überhaupt allen Frauen gegenüber. Zwei Söhne, verstehst du, keine Töchter. Und eine zurückhaltende Frau.«
»Das hat sich aber nicht vererbt.«
»Was meinst du damit?«
»Das Gen für das Misstrauen gegenüber Frauen. An dich hat er es nicht weitergegeben.« Sie stand lächelnd im Abendlicht da, und er wusste, sie hatte recht. Nie in seinem Leben hatte er jemandem gegenüber so wenig Misstrauen gehegt.
8
Es war eine alte Tradition, dass es hochrangigen Beamten
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