Der Modigliani Skandal
ziemlich gemein, jemanden auf solche Weise zum Reden zu bringen«, sagte sie mißbilligend.
»Unsinn. Der Barmann sagt, der Alte wartet schon den ganzen Morgen darauf, daß ein Tourist ihm einen Drink kauft. Das ist der einzige Grund, daß er hier sitzt.«
Dee fragte den Mann mit dem Strohhut auf italienisch: »Erinnern Sie sich noch an die Zeit um 1920?«
»Ja«, erwiderte der Alte langsam.
»Hat damals eine Familie Danielli hier gelebt?« drängte Mike ungeduldig.
»Nein.«
»Erinnern Sie sich noch an irgendwelche Fremden, die sich seinerzeit im Dorf herumtrieben?«
»Eine ganze Menge sogar. So um die Zeit war ja schließlich ein Krieg im Gange, wie Sie vielleicht wissen.«
Mike warf Dee einen ärgerlichen Blick zu. Er fragte: »Leben im Dorf irgendwelche Juden?« Es machte ihm Mühe, sich italienisch auszudrücken.
»Ja. Sie betrieben die Schenke an der Straße, die von Poglio nach Westen führt. Dort wohnte Danielli, als er noch am Leben war.«
Sie musterten den Alten verblüfft. Dann blickte Mike zu Dee und sagte auf englisch: »Warum, zum Teufel, hat er uns das nicht gleich gesagt?«
»Weil du mich das nicht gefragt hast, du junger Dummkopf«, sagte der Alte auf englisch und ließ ein meckerndes Lachen hören. Er rappelte sich hoch und hinkte, noch immer lachend, über die Straße davon; und blieb ab und zu stehen, schlug mit dem Stock auf den Boden und lachte immer lauter.
Mike machte ein so komisches Gesicht, daß auch Dee lachen mußte; und schließlich stimmte sogar Mike mit ein und lachte über sich selber. »Na ja, wer den Schaden hat ...«, sagte er.
»Sollten wir uns nicht am besten gleich zu der Schenke an der westlichen Landstraße aufmachen?« meinte Dee.
»Es ist so heiß. Laß uns erst in der Bar etwas trinken.«
»Soll mir recht sein.«
Sie betraten den kühlen Innenraum. Hinter dem Tresen stand der junge Barmann, der über das ganze Gesicht grinste, als er die beiden sah.
»Sie haben's gewußt!« sagte Dee ihm auf den Kopf zu.
»Ja, ich geb's zu«, gestand er. »In Wahrheit hat er gar nicht darauf gewartet, daß ihm jemand einen Drink spendiert. Er hat darauf gelauert, seine Schau abziehen zu können. Nach Poglio kommen höchstens einmal jährlich Touristen, und das ist für ihn der Höhepunkt des ganzen Jahres. Heute abend wird er hier in der Bar sein und die Geschichte jedem erzählen, der ihm zuhört.«
»Zwei Camparis bitte«, sagte Mike.
3
Der Priester stand auf dem gepflasterten Weg des Kirchhofs und bückte sich, um etwas aufzuheben, das sein Gefühl für Sauberkeit und Ordnung beleidigte: die leere Hülle einer Schokoladentafel. Er drückte das Papier in seiner Hand zusammen und richtete sich dann langsam wieder auf: Die Rheumaschmerzen in seinen Gelenken machten ihm oft arg zu schaffen. Woher sein Rheumatismus rührte, war ihm klar: von den vielen Nächten während des oft so feuchten italienischen Winters, wenn er allein in dem alten Haus schlief. Doch ein Priester mußte nun einmal arm sein. Denn wie konnte ein Mann wirklich Geistlicher sein, solange es im Dorf einen einzigen Menschen gab, der ärmer war als er selbst? Diese Überzeugung war so etwas wie sein ganz persönliches Glaubensbekenntnis, und während er wieder einmal darüber nachdachte, milderten sich die Schmerzen in seinen Knien.
Er verließ den Kirchhof, um über die Straße zu seinem Haus zu gehen. Aber plötzlich durchzuckten ihn wieder die Schmerzen so heftig, daß er zu straucheln begann. Er erreichte schließlich das Haus und lehnte sich gegen die Mauer.
Als er über die Straße hinweg in Richtung Dorfmitte blickte, sah er das junge Paar, mit dem er vorhin gesprochen hatte. Die beiden gingen sehr langsam und eng umschlungen; lächelnd sahen sie einander an. Sie schienen sehr verliebt zu sein - mehr als vor einer halben Stunde. Seine in langen Jahren erworbene Menschenkenntnis sagte dem Priester, daß sich im Verhältnis zwischen diesen beiden Menschen während der letzten Minuten etwas verändert haben mußte. Vielleicht hatte das etwas mit ihrem Besuch im Gotteshaus zu tun: Vielleicht war es ihm irgendwie gelungen, ihnen spirituell zu helfen.
Daß er sie was Danielli betraf allerdings belogen hatte, mußte man ja wohl eine Sünde nennen. Er hatte in diesem Punkt ganz automatisch die Unwahrheit gesagt: die Macht einer Gewohnheit, die vom Krieg her rührte. Wenn damals Spürhunde aufgetaucht waren, vor deren gefährlichen Fragen man die jüdischen Familien schützen mußte, so hatte nicht nur
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