Der Nautilus-Plan
wiegte die Pappeln, und ein buntes Sammelsurium afrikanischer Sprachen würzte die Abendluft, als Liz der Frau durch Belleville folgte. Sie begann sich immer mehr zu fragen, was die Frau im Schilde führte.
Mit aller Kraft stieß Sarah mit dem Dornenschneider ein letztes Mal zu. Auch wenn ihre Hände nur noch fühllose Klauen waren und ihre Arme und Schultern heftig schmerzten, hatte sie sich die ganzen letzten zwei Tage nicht mehr so gut gefühlt. Sie blickte zu der Sperrholzplatte hoch. Es war ihr gelungen, sie auf drei Seiten zu lösen – links, rechts und unten. Sobald das Blut in ihren Armen wieder zu zirkulieren begann, würde sie die Platte anheben und schauen, was sich hinter dem Fenster befand. Sie hoffte, es wäre eine Feuerleiter oder ein Dach oder auch ein Baum in erreichbarer Nähe.
Sie hörte ein Geräusch und drehte sich um. »Asher! Nicht …«
Er saß aufrecht auf der Bahre. »Ich sage dir doch, mir fehlt nichts. Ich bin schon in meinem Krankenzimmer herumgegangen, bevor diese Pisser mich abgeholt haben. Der Schnellste bin ich zwar noch nicht, aber dafür bewege ich mich um so würdevoller. Du fandest doch immer schon, etwas mehr Würde könnte mir nicht schaden.«
»Erzähl doch keinen Quatsch. Du zitterst ja.«
»Das liegt nur an deinem Anblick. Ich konnte dir noch nie widerstehen.«
»Asher«, wies sie ihn zurecht.
Er grinste.
Sie seufzte. »Na schön, wenn du unbedingt meinst. Hilf mir.«
Wie versprochen, bewegte er sich sehr bedächtig. Leicht außer Atem, blieb er mit erwartungsvoller Miene neben ihr stehen. »Dann hoffen wir mal, dass da draußen ein Lift ist.«
»Du hast vielleicht Nerven. Ich komme mir vor, als würden wir die Queen Elizabeth taufen.«
»Immer noch besser als die Titanic. Obwohl der Champagner sicher vorzüglich war.«
Sie tauschten einen optimistischen Blick aus und hoben die Sperrholzplatte gemeinsam ein Stück an, bis sie sich wegen der Nägel, von denen sie oben gehalten wurde, nicht mehr weiter bewegen ließ.
»So«, sagte Sarah und drückte die Platte mit dem Rücken nach oben. »Dafür brauche ich dich nicht mehr. Du machst den Ausguck. Was siehst du?«
Sein Mund nahm einen gequälten Zug an. Dann nickte er und stieg auf Sarahs Pritsche. »Klasse Blick. Wie in der ersten Reihe.«
Nickend spreizte Sarah die Beine und drückte mit dem ganzen Körper nach oben. Unter dem quietschenden Protest der Nägel hob sich die Platte immer weiter. Das Holz grub sich in ihren Rücken. Staub und Spreißel rieselten auf sie herab.
»Und? Was siehst du?«, fragte sie.
»Sterne. Es ist Nacht. Der Himmel ist klar.«
Das hörte sich nicht gut an. Nachdem sich die Nägel weiter gelockert hatten, drückte sie die Platte so weit nach oben, dass sie sich in den Spalt zwängen konnte. Sie schaute nach unten. Ihr stockte der Atem. Sie befanden sich sechs Stockwerke über dem Erdboden, die Straße unter ihnen ein Strom aus Autodächern und Lichtern. Der Bürgersteig schien sich auf dem Grund eines dunklen Brunnens zu befinden. Kein Lift, keine Feuerleiter, kein Dach und kein hoher Baum. Nicht mal ein Seil. Sie befanden sich sechs Stockwerke über einem Sprung in den sicheren Tod.
DREIUNDZWANZIG
Mit langen, zornigen Schritten kehrte Simon zu seinem Wagen zurück. Zu viele Tote, zu viele unerklärliche Vorfalle, und jetzt machte er sich auch noch Sorgen um Sarah. Das war die chronische Anspannung des endlosen, erbarmungslosen Wartens, das das Los echter Spione war. Man wartete ganz allein an irgendeiner dunklen Brücke oder einer gottverlassenen Straßenecke auf einen Informanten. Man wartete in einem leeren Zimmer auf einen Kurier, der Anweisungen oder neue Papiere oder einen Fluchtweg aus einer fremden Stadt überbringen sollte.
Nach seiner Ankunft in Paris war Simon sofort zum Fotogeschäft von Jacqueline Pahnke gefahren, die früher für den französischen Geheimdienst tätig gewesen war, und hatte die Mini-Kamera abgegeben. Auf dem Weg zurück zu seinem Auto rief er die Nachrichten auf seinem Handy ab. Es war nur eine einzige eingegangen. Sie war von Sarah und beunruhigte ihn: Möglicherweise wissen die Leute, die den Killer in London engagiert haben, dass du heute den Baron aufsuchen willst. Dass sie gefährlich sind, brauche ich dir nicht zu sagen … Ihm war jedoch im Château nichts aufgefallen, was darauf hindeutete, dass dort jemand vor seinem Kommen gewarnt worden war oder dass die Ermordung des Barons in irgendeinem Zusammenhang mit seinem Erscheinen
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