Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Nautilus-Plan

Der Nautilus-Plan

Titel: Der Nautilus-Plan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gayle Lynds
Vom Netzwerk:
die einzigen geliebten Menschen, die ihr geblieben waren, und jetzt waren sie weg. Was zählten da schon ihre Überzeugungen? Wenn ein Menschenleben an einem seidenen Faden hing, waren Theorien wertlos. Sie hatte sich von Überheblichkeit, gepaart mit Selbstgefälligkeit, leiten lassen, nicht von hehren utopischen Idealen. Als alles verloren schien, als ihr klar wurde, dass es keine andere Möglichkeit gab, Sarah und Asher zu helfen, war sie zum Tier geworden und hatte einen Toten nach einer Waffe abgesucht.
    Voller Grimm, die Augen heiß und trocken, drehte sie sich um und eilte in das Lagerhaus zurück. Dort waren noch mehr Leichen. Noch mehr Waffen.

FÜNFUNDZWANZIG
    Mit all den Toten strahlte das verlassene Eisner-Moulton-Lagerhaus eine fast unwirkliche Kälte aus, als Liz durch die offene Tür nach drinnen schlüpfte. Der Bürgersteig hinter ihr war verlassen. Feuergefechte waren kein Zuschauersport. Sie kramte in ihrer Umhängetasche nach der Taschenlampe. Als sie sie schließlich anknipste, fiel ihr heller Strahl auf drei Tote im Aufzug und einen vierten auf der Verladerampe. Sie durchsuchte sie rasch, fand aber keine Waffen.
    Sich den schmerzenden Arm haltend, kehrte sie zur Ladezone zurück. Die Reifen des schwarzen Lieferwagens waren zerschossen, aber unter einem der Sitze fand sie einen Erste-Hilfe-Kasten. Sie setzte sich in die Tür des Lieferwagens und schluckte ein paar Aspirin. Plötzlich begann sie heftig zu zittern und mit den Zähnen zu klappern – die verzögerte Reaktion auf ihre Schussverletzung. Aber mit einem letzten Schauder ging auch das vorüber, und schließlich hatte sie sich wieder so weit im Griff, dass sie ihre Jacke und das Strick-Top ausziehen konnte.
    Sie untersuchte die Schussverletzung. Die Kugel war durch das Muskelfleisch ihres linken Arms gepflügt, was zwar reichlichen Blutfluss, aber keinen bleibenden Schaden nach sich gezogen hatte. Sie säuberte und verband die Wunde und steckte die Aspirin-Packung ein. Sobald ihre Übelkeit verflogen war, schnitt sie mit der Verbandschere die Ärmel ihres Tops ab und zog es wieder an. Auf dem Beifahrersitz des schwarzen Lieferwagens lag ein blaues Herrensakko. Gut. Der Ärmel ihrer Jacke hatte nämlich von dem Treffer ein Brandloch. Lieber keine unnötige Aufmerksamkeit erregen.
    Sie schlüpfte in das Sakko und inspizierte noch einmal das dunkle Innere des Lagerhauses und die Leichen, die wie kaputte Spielsachen auf dem Boden lagen. Ihr Vater hatte ihr einmal gesagt: Oft haben deine Feinde genauso viel Angst vor dir wie du vor ihnen, aber meistens glauben sie, besser und schlauer zu sein. Das ist eine Schwachstelle. Er hatte die menschliche Natur verstanden und sie zu seinem Vorteil genutzt. Aber warum hatte er sich Aufzeichnungen gemacht? Er mochte alles Mögliche gewesen sein, aber mit Sicherheit nicht dumm. War es Hybris gewesen? Das perverse Verlangen, seine blutigen Taten noch einmal zu durchleben? Allerdings war ihr ein derartiger Zug nie an ihm aufgefallen.
    Vielleicht war es seine Ordnungsliebe, seine Gewissenhaftigkeit, sein Perfektionismus; er war immer sehr gründlich gewesen, hatte alles bis ins kleinste Detail geplant. Vielleicht hatte er das alles schriftlich festgehalten, weil er sich dem Urteil der Öffentlichkeit, ja sogar der Geschichte stellen wollte; vielleicht hatte er den Beweis erbringen wollen, dass seine Opfer sich moralisch zutiefst verwerflicher Verbrechen schuldig gemacht hatten. Oder war das nur etwas, was sie, seine Tochter, gerne glauben wollte? Letzten Endes spielte der Grund jedoch keine Rolle. Das Ergebnis war dasselbe: Er hatte zeit seines Lebens Leid und Tod über andere Menschen gebracht, und jetzt hatte er sogar noch aus dem Grab heraus neues Blutvergießen verursacht.
    Schaudernd versuchte Liz, nicht mehr an diese Dinge zu denken, und wandte sich stattdessen den akut anstehenden Problemen zu. Früher oder später würde die Polizei von der Schießerei Wind bekommen. Das war unvermeidlich, und sie durfte auf keinen Fall mehr hier sein, wenn sie anrückten. Schweißgebadet durchsuchte sie den Lieferwagen nach Waffen oder Handys oder Hinweisen auf die Identität des Erpressers. Sie fand die üblichen Reste von Junk Food, Zigaretten und M&Ms, aber keinen Kfz-Schein oder sonst einen Hinweis, wem das Fahrzeug gehörte oder wer es gemietet haben könnte.
    Das Aspirin begann zu wirken. Gut ging es ihr immer noch nicht, aber die Schmerzen wurden erträglicher.
    Sie sprang aus dem Lieferwagen und tastete die

Weitere Kostenlose Bücher