Der Nautilus-Plan
einem alten Audi hindurch über die Straße und dann den Bürgersteig hinunter, vorbei an offenen Kneipentüren, vor denen kleine Gruppen trinkender, rauchender und schwatzender Menschen standen. Sie klammerte sich an die Jacke, als hinge ihr Leben daran, und hielt das Handy wie eine Waffe in ihrer Hand. Die Tür eines Clubs ging auf, und dröhnender Heavy Metal drang nach draußen. Ohne sich umzusehen oder stehen zu bleiben, rannte sie vor den Schakalen aus dem Lagerhaus und den immer näher kommenden Sirenen davon.
Bis Cesar Duchesne hinkend aus der Durchfahrt gelaufen kam, war Liz Sansborough bereits über alle Berge. Inzwischen war die Polizei vor dem Lagerhaus eingetroffen, und Duchesne konnte jeden Moment entdeckt werden. Um den Schalldämpfer von seiner Walter abzuschrauben oder nach Sansborough Ausschau zu halten, reichte die Zeit nicht mehr. Er sprang in sein Taxi und brauste davon. Jetzt hatte er keine Wahl mehr. Jetzt musste er Kronos Meldung erstatten.
Brüssel
Kronos verließ das Old Hack, eine Kneipe, in der viele englischsprachige Journalisten verkehrten, und ging den gut beleuchteten Boulevard Charlemagne hinauf. Trotz der späten Stunde begab er sich noch einmal in sein Büro. Mit vorgerecktem Kinn, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, die obere Hand die untere tätschelnd, dachte er wieder einmal über Hyperions Ermordung nach. Ratlos und verärgert schüttelte er seinen mächtigen Kopf. In den vergangenen Tagen hatten sich die Ereignisse überstürzt. Das war ebenso unerklärlich wie unerhört.
Ohne nach links oder rechts zu blicken, ging er an Kneipen, Geschäften und Cafés vorbei, in denen vorwiegend Beamte, Politiker und Diplomaten verkehrten, die in der EU-Kommission, im Europarat, bei der Nato und in anderen nationalen und internationalen Organisationen beschäftigt waren, die im Leopold-Viertel ihren Sitz hatten. Das hier war seine Welt, und mit seinem Savile-Row-Anzug und der Clubkrawatte passte er hervorragend ins Bild. Seine Gedanken kreisten um den Moment, als er am Nachmittag im Radio von Hyperions Ermordung gehört hatte. Zunächst war er tief bestürzt gewesen. Aber zugleich war ihm rasch bewusst geworden, dass seine Reaktion lächerlich war – oder genauer: naiv. Hyperion war erpresst worden. Und jetzt war Hyperion tot. Der Erpresser hatte erneut zugeschlagen. Das war alles.
Er zwang sich, nicht mehr weiter an den Mord zu denken. Solange der Erpresser nicht überführt wurde, gab es nichts, was irgendjemand hätte tun können. Es war von Anfang an klar gewesen, dass die Aufzeichnungen des Carnivore irgendjemandem zu mehr Macht verholfen hatten, als der Betreffende mit Verstand auszuüben in der Lage war.
Kronos lauschte beim Gehen dem Sprachengewirr. Er mochte Brüssel, fühlte sich von der Stadt inspiriert. Wegen ihrer zentralen Lage und der zahlreichen internationalen Organisationen, die dort ihren Sitz hatten, betrachtete sich die alte Metropole als die Hauptstadt der Europäischen Union. In Kronos’ Augen war das bestenfalls Wunschdenken. Brüssel reichte nicht einmal annähernd an London oder Washington oder auch Moskau heran, wo die Regierungen großer Nationen ihren Sitz hatten. Es würde noch Jahre dauern, bis Brüssel solche Macht in sich vereinen würde.
Er war der Meinung, der europäische Einigungsprozess müsse behutsam, Schritt für Schritt, vonstatten gehen, damit er Bestand hätte. Und das würde, was noch wichtiger war, Großbritannien ermöglichen, seine Stellung in Europa noch weiter auszubauen, bevor die Union endgültig besiegelt wurde. Diese Parteilichkeit gestand er nur gegenüber wenigen Menschen ein. Immerhin hatte er als EU-Kommissar einen Eid abgelegt, die Interessen der Union über die Interessen einer einzelnen Nation zu stellen. In den meisten Fällen tat er das auch. Dennoch gab es immer wieder Entscheidungen, bei denen er sich von seinen Interessen leiten ließ. Schließlich war es nur menschlich, auf seinen Vorteil bedacht zu sein.
Inzwischen hatte Kronos die breite Rue de la Loi erreicht, wo über dem dichten nächtlichen Verkehr hypermoderne EU-Bauten in den Himmel ragten. Er betrat das Kommissionsgebäude.
»Guten Abend, Sir Anthony.« Jacobus am Sicherheitsschalter verneigte sich respektvoll. Der Mann hatte ein gutes Gedächtnis und das Gesicht eines Wiesels.
Der ehemalige Finanzminister Sir Anthony Brookshire, Großbritanniens höchster Vertreter bei der Europäischen Kommission, war ein gewiefter und hoch
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