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Der Novembermörder

Der Novembermörder

Titel: Der Novembermörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Tursten
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Kopf herum: Was wäre passiert, wenn ich sie nicht aufgefangen hätte? Wenn ich sie nicht sofort gepackt hätte? Wenn sie im Raum erst mal weggerollt wäre? Ich weiß die Antwort auf diese Fragen, aber eine werde ich nicht los: Wie viel Zeit hat man?«
    Tommy stand auf und ging zu Irene. Vor Anderssons überraschten Augen beugte er sich zu ihr hinunter und nahm sie in die Arme. Er lehnte seinen Kopf gegen ihren und sagte leise: »Vier Sekunden. Er hat die Granate sofort geworfen, nachdem er sie entsichert hat. Die Kerle hatten es eilig, er stand sicher unter Druck. Deshalb hast du es geschafft. Der Wurf hat wohl mindestens eine halbe Sekunde gedauert. Die musst du von den ursprünglichen viereinhalb abziehen. Maximal vier Sekunden Zeit hattest du also.«
    »Und wenn er sie nicht gleich geworfen hätte, hätte ich es nicht geschafft?«
    »Nein, Irene. Dann hättest du es nicht geschafft.«
    Tommy hielt sie noch immer im Arm, aber sie spürte weder Trost noch Wärme. Eine Eiseskälte sickerte aus dem schwarzen Loch und die Stimmen hallten in der Tiefe wider: »Dann hättest du es nicht geschafft! Ihr wärt tot. Ihr hättet tot sein müssen! Keiner schafft es unter vier Sekunden. Vier Sekunden!«
    Andersson rutschte nervös auf seinem Platz hin und her.
    »Aber jetzt denk nicht mehr an das, was hätte passieren können! Halt dich nicht damit auf, wir müssen in den Ermittlungen weiterkommen. Verdammt, Irene, du bist eine Heldin, du hast Jimmy das Leben gerettet! Und deins auch. Für so was kriegt man einen Orden.«
    Er stand auf. Tommy hatte seine Arme von ihren Schultern genommen. Der Kommissar platzierte einen wohlwollenden Klaps auf ihrem Schulterblatt. Sie zuckte zusammen, sagte aber nichts.
    Tommy schaute nachdenklich seinen Chef an und fragte: »Sven, du warst doch ein Kollege von Olle ›Armstrong‹ Olsson?«
    »Ja, natürlich. Wir sind zehn Jahre lang gemeinsam Streife gegangen. Danach habe ich die Inspektorenausbildung gemacht und bin bei der Kripo gelandet, während er Hundeführer geworden ist. Er hat seine Tiere über alles geliebt …«
    Er unterbrach sich und schaute Tommy eine ganze Weile stumm an.
    »Ich weiß, worauf du hinaus willst«, sagte er kurz.
    Er räusperte sich und wandte sich dann Irene zu.
    »Irene, was ich dir jetzt erzähle, ist vor zwanzig Jahren passiert. Mein alter Kumpel Armstrong arbeitete damals als Hundeführer. Ein verdammt tüchtiger Kerl. Den Spitznamen Armstrong hat er gekriegt, weil er immer nur Jazz gehört hat. Aber das spielt hier keine Rolle. Olle und sein Hund wurden zu einem Einbruch bei Obs gerufen, hinten in Hisings Backa. Das ist ja ein ziemlich großes Kaufhaus, deshalb ließ Olle den Hund los, wie es üblich ist. Der Hund nahm Witterung auf und rannte los. Ein Schuss war zu hören, und als Olle, ohne weiter nachzudenken, hinterherlief, fand er seinen Hund blutend am Boden liegen. Er spähte herum, seine gezogene Pistole in der Hand. Da fühlte er plötzlich, wie ihm ein Pistolenknauf in den Nacken gedrückt wurde und er bekam die klischeehafte Order: ›Pistole weg!‹ Er tat, wozu er aufgefordert worden war. Es waren zwei Einbrecher, der andere nahm seine Pistole, und dann hauten sie ab.«
    Der Kommissar schwieg und bekam einen finsteren Gesichtsausdruck. Die Worte schienen aus weiter Ferne zu kommen, als er fortfuhr: »Mehr passierte nicht. Außer dass der Hund starb und Olle seinen Dienst quittierte.«
    Er schwieg und Irene spürte, dass sie gegen ihren Willen mehr wissen wollte. Deshalb fragte sie: »Er hat seinen Dienst quittiert? Und was hat er dann gemacht?«
    »Hat sich scheiden lassen, ist nach Örebro gezogen und wurde dort Autohändler. Nach ein paar Jahren hat er wieder geheiratet.«
    »Habt ihr noch Kontakt?«
    »Nein. Wir schicken uns nur Weihnachtskarten. Diese Sache ist jetzt bestimmt schon fünfzehn Jahre her.«
    Tommy beugte sich eifrig zu ihr hinunter.
    »Es macht was kaputt, wenn man entwaffnet wird und den Kerlen ausgeliefert ist. Das geht allen so. Du brauchst deshalb nicht zu glauben, dass du spinnst. Das ist eine ganz natürliche Reaktion.«
    Irene sah immer noch Andersson an, als sie fragte: »Warum habt ihr ihm nicht geholfen?«
    »Geholfen? Wie meinst du das?«
    »Warum habt ihr ihm nicht geholfen, weiter bei der Polizei bleiben zu können?«
    »Aber zum … er hat doch alles hingeworfen! Was sollten wir denn tun? Er selbst wollte doch nicht mehr!«
    »Das meine ich ja. Warum habt ihr ihm nicht geholfen, wieder auf die Beine zu

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