Der Preis des Schweigens
gegen halb vier Uhr nachmittags zu einem reißenden Strom anwuchs, weil dann die große Eile der Journalisten vor der letzten Abgabefrist des Tages einsetzte.
Am Vormittag hatten mich Bodie und Doyle zu sich ins Kripo-Büro zitiert, und als ich den Kopf zur Tür hereingesteckt hatte, waren sie gerade dabei gewesen, sich die Aufnahmen einer Überwachungskamera auf einem ramponierten tragbaren Fernseher anzusehen und sich um die Fernbedienung zu streiten. Wer die Illusion hat, dass die Polizei heutzutage auf modernstes Gerät zurückgreifen kann, muss sich nur einmal das Durchschnittsbüro eines Kriminalbeamten ansehen, in dem noch so manche elektronische Hommage an die Achtzigerjahre zu finden ist. Wenn man ganz genau hinguckt, findet man vielleicht sogar noch ein altes Faxgerät oder einen Kopierer mit Handkurbel.
Bodie saß mit dem Rücken zur Tür und notierte sich die Minuten- und Sekundenangabe einer bestimmten Videosequenz. Die beiden lachten zwar nicht und gaben auch keine anstößigen Kommentare von sich, aber ich nahm eine gewisse unterdrückte Heiterkeit wahr, erkannte sie an der Art, wie sie sich gegenseitig anstupsten und einander zuzwinkerten.
»Gebt’s zu, ihr guckt euch schon wieder die Highlights der letzten X Factor-Sendung an«, sagte ich absichtlich laut. »Mein lieber stellvertretender Sergeant, Sie haben erneut die Datenbank-Suchmaske offen gelassen«, erklärte ich streng und tippte mit meinen kurzen Fingernägeln an Bodies Computermonitor.
»Jen! Herrgott!«, rief Doyle, nachdem er erschrocken zu mir herumgefahren war. »Musst du dich immer so anschleichen? Du bist ja schlimmer als Dai Hard!« (Detective Inspector David Harden, von seinen Untergebenen Dai Hard genannt, stand den operativen Beamten der Kriminalpolizei vor, die er mit kreativen Methoden zu motivieren versuchte.)
Bodie eilte unterdessen mit einem verlegenen Räuspern zu seinem Computer, um sich auszuloggen. »Dieses Scheißgerät macht mich noch wahnsinnig! Entschuldige den Kraftausdruck, Jen, ich bin wirklich ein ungehobelter Rüpel. Zum Glück bist du nicht Dan, sonst hätte ich wieder Ärger kassiert. Komm her und sieh dir das an. Der Laden gegenüber dem St. David Pub hat neuerdings eine Überwachungskamera, und Jim hat gerade die Bänder abgeholt. Der absolute Knaller.«
Nach einigen Anläufen gelang es Jim, das Video zur richtigen Sequenz zurückzuspulen. »Achte auf das Mädchen, das am Geländer lehnt. Stockbesoffen.«
Ich blickte auf den Bildschirm und sah ein etwa achtzehnjähriges Mädchen in engem Oberteil, knappem Minirock und turmhohen Absätzen, das sich an ein Geländer neben der Straße lehnte und dabei fast hintenüberfiel. Es machte einen schlaffen, marionettenartigen Eindruck und schien kurz vor einer Alkoholvergiftung zu stehen. Die Handtasche der jungen Frau stand auf dem Bürgersteig neben ihr, sie bückte sich unbeholfen und zog nach großer Anstrengung einen Gegenstand hervor, der wie ein Handy aussah, nur um ihn gleich wieder in den Rinnstein fallen zu lassen.
In diesem Moment näherte sich ihr ein junger Mann, der auf den ersten Blick ganz normal wirkte.
»Jetzt kommt’s, jetzt kommt’s!«, kündigte Bodie aufgeregt an.
Nach kurzem Zögern küsst der Mann das Mädchen, nicht mit Gewalt, sondern ganz sanft. Sie ist offenbar zu betrunken, um zu protestieren, und ihr Kopf pendelt von links nach rechts. Immer wieder versucht sie, den jungen Mann zu fokussieren, scheint aber nicht mehr dazu in der Lage zu sein. Auch seine Hand, die langsam ihr Bein hinaufstreicht und schließlich unter ihrem Rock verschwindet, spürt sie offensichtlich nicht. Der junge Mann geht mit Bedacht vor und dreht den Türstehern, die am Eingang des wenige Meter entfernten Pubs stehen, den Rücken zu, damit sie nicht sehen, was er tut. Er macht sich mehrere Minuten lang intensiv unter dem Rock des Mädchens zu schaffen, bevor er die andere Hand in seine eigene Hose schiebt. Kurz darauf zieht er den Reißverschluss seiner Hose wieder zu und zieht das Mädchen nach unten auf die Bordsteinkante. Sie scheint etwas sagen zu wollen, aber es ist auch ohne Ton ersichtlich, dass sie kein einziges vernünftiges Wort herausbringt. Der Mann geht ohne jede Eile davon und biegt auf die Hauptstraße ab.
»Nicht zu glauben, was?«, sagte Jim. »Was für ein reizendes Ende für einen gelungenen Abend. Der Vater der Kleinen kam heute Morgen auf die Wache, um die Handtasche als gestohlen zu melden. Er hat seine Tochter etwa eine halbe Stunde
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