Der Puppenfänger (German Edition)
überlegte er, wie lange man ihn bereits gefangen hielt, gab aber sofort wieder auf. Er hatte es nicht gewusst, ehe er eingeschlafen war, warum sollte sich das geändert haben. Seit er sich in der Hütte aufhielt, hatte er keinen Bissen zu sich genommen. Trotzdem verspürte er seit längerer Zeit keinen Hunger mehr. Doch eines war ihm mittlerweile klargeworden. Seine Entführer führten einen Krieg gegen ihn, den er nicht gewinnen konnte, weil sich etwas in ihrem Besitz befand, das er brauchte, um zu kämpfen. Sie besaßen Wasser und gaben es ihm nur, wenn sie dafür Antworten auf ihre Fragen bekamen.
Er rappelte sich auf, lehnte den Rücken an den Holzpfahl und legte die gebundenen Hände in seinen Schoß. Im kläglichen Licht der Deckenlampe sah er, dass der Stiefelmann ihm gegenüber auf einem Stuhl saß. Wahrscheinlich beobachtete er ihn durch die Sehschlitze in dem Strickschlauch, unter dem er seit Tagen sein Gesicht verbarg. Sicherlich hatte er ihn auch im Schlaf nicht aus den Augen gelassen.
»Antworten! Ihr wollt Antworten von mir, und ich will trinken«, flüsterte Gerald heiser, mit trockenem Mund und einer Zunge, die sich kaum bewegen ließ. Er konnte den Kampf nur gewinnen, wenn er Wasser bekam.
»Ja!«, krähte der Stiefelmann, den Gerald an seinen blauen Gummistiefeln erkannte. »Endlich hast du es begriffen!«
»Folter«, stöhnte Gerald. »Das ist Folter.«
»Ja!«, stimmte der Schattenmann zu, der sich jetzt neben den Stiefelmann gestellt hatte.
»Ehe du eingeschlafen bist, hast du mir von deiner Tätowierung erzählt«, nahm der Schattenmann das Gespräch an der Stelle wieder auf, wo es durch Schöllens Müdigkeit unterbrochen worden war.
»Ja!«
»Du sagtest mir, sie befände sich über deinem Steiß und sie zeige ein schwarz bestrumpftes Frauenbein.« Er stand auf, reichte Schöllen eine geöffnete Wasserflasche und blieb breitbeinig vor ihm stehen.
Während Schöllen die Flasche anhob, sie ansetzte und die Flüssigkeit durch seine Kehle laufen ließ, fiel ihm ein, dass die Lehrerin im Traum bei ihm gewesen war. Sie hatte vor seinen Füßen gelegen und im Takt der Musik ihre Handflächen auf den Dielenboden geschlagen.
TAM Ta Ta Ta, Tam Ta Ta Ta Tam Ta TAM Ta Ta Ta …
Schöllen hatte sie sofort an ihren schwarzen Strümpfen und den roten hochhackigen Schuhen erkannt. Das feine Fräulein hatte es jeden Mittwochnachmittag mit einem bärtigen Kerl in einem offenen Cabrio getrieben und dazu die Musik gehört, die seit Tagen durch die Hütte plärrte. ›Sie ist ein rattenscharfes Luder, dem man es einmal ordentlich besorgen muss‹, hatte Gunnar gesagt. Der kleine Gerald hatte noch nicht gewusst, was mit dem Begriff rattenscharfes Luder gemeint war. Er hatte nur die Groschen der Jungen eingesammelt, die dem Fräulein durch Gunnars Fernglas beim Bolerotanzen zuschauen wollten. Bolero, Kindheit und Jugend – auch Geralds kriminelles Vorleben – waren in seiner Erinnerung eng miteinander verknüpft.
TAM Ta Ta Ta, Tam Ta Ta Ta Tam Ta TAM Ta Ta Ta, Tam Ta Ta Ta, Ta Ta Ta Ta Ta Ta …
»Goldhaar«, murmelte Gerald, nachdem die Flasche leer getrunken war.
»Erzähle mir von ihrem Goldhaar«, erwiderte der Schattenmann. »Magst du goldfarbenes Haar?«
»Ja!«
»Und? Was gefällt dir sonst noch?«
»Brüste!«
»Wen siehst du vor dir, wenn du Goldhaar sagst?«
»Fräulein Gündermann«, nuschelte Gerald.
»Wer ist Fräulein Gündermann?«
»Eine Lehrerin … in einem Scheißdorf …«
»Du erinnerst dich nur an die Lehrerin, wenn du an Goldhaar denkst?«, krächzte der Schattenmann.
»Nein!«, stöhnte Schöllen. Es war ihm bisher gelungen, sie zu vertreiben, aber jetzt sprangen sie ihm ins Gesicht, schwirrten durch den Raum, klagten ihn an, zeigten ihm ihre schönen Beine und Brüste und ihr wundervolles blondes Haar.
S AMSTAG, DEN 16. A PRIL 2011
Auf dem Friedhof in Holte, der sich in der Dorfmitte, neben der Kirche, befand, herrschte reger Betrieb. Wie wahrscheinlich überall in Deutschland, fand auch hier die Grabpflege hauptsächlich vor dem Wochenende statt. Die Grabstätte der Familie Wanner entdeckten Heide und Dieter auf dem ältesten Teil des Dorffriedhofes. Daneben lag die der Familie Rosenbring. Beide Familiengräber waren großzügig und einheitlich mit riesigen, kugelig geschnittenen Buchsbäumen bepflanzt. Kräftig wuchernde Efeublätter deckten den ganzen Erdboden ab und bildeten den Untergrund für mehrere bepflanzte Blumentröge, aus denen die ersten
Weitere Kostenlose Bücher