Der Purpurkaiser
seine Flügel sowieso nicht richtig bewegen konnte, dann machte er sie vielleicht am besten einfach steif. Er lief wieder los, versuchte es. Es ging ganz einfach, die Flügel in einer festen Position zu halten, und er hatte das leise, ermutigende Gefühl, schon leichter zu werden. Anscheinend war er auf dem richtigen Weg.
In der Nähe eines dieser vierfüßigen Bäume stieß Henry auf einen kleinen, weichen Hügel. Auf der anderen Seite fiel der Hang sanft ab, dann ging es jäh ein, zwei Meter hinunter. Die perfekte Absprungstelle.
Er konnte seine Flügel jetzt ausbreiten und einigermaßen ordentlich zusammenlegen. Mehr schaffte er nicht, aber vielleicht reichte es ja. Er breitete die Flügel aus, machte sie steif, dann rannte er den Hang hinunter, auf die kleine Klippe zu.
Noch auf dem Hang bekam er Auftrieb. Die starren Flügel zerrten an ihm, wirkten sich auf seine Balance aus, und fast wäre er nach rechts abgedriftet. Er biss die Zähne zusammen, stemmte sich dagegen und schaffte es, weiter geradeaus zu laufen. Noch bevor er an der Klippe ankam, wusste er, dass es klappen würde.
Die Kante kam schneller näher, als er es für möglich gehalten hätte. Im allerletzten Moment kamen ihm Zweifel. Die Flügel würden nicht funktionieren. Er rannte auf irgendeiner komischen Welt einen komischen Hügel auf einer komischen Ebene hinunter, und wenn er über die Klippe hinausrannte, brach er sich aller Wahrscheinlichkeit nach den Hals.
Henry rannte über die Klippe hinaus.
Und flog.
Henry stieg hoch in die Luft. Es war fantastisch. Als hätte ihn die Hand eines Riesen emporgehoben. So etwas hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht erlebt; es war nicht wie Rennen, es war nicht wie Schwimmen, sondern total anders. Herrlich war es, wunderschön, großartig.
Das Merkwürdige und das Tolle daran war, wie natürlich es sich anfühlte. Eigentlich waren große Höhen nichts für Henry, aber jetzt waren sie ihm egal. Er hatte das Gefühl, in der Luft zu Hause zu sein, schon immer ein Luftbewohner gewesen zu sein. Es kam ihm genauso wenig gefährlich vor wie ein Spaziergang.
Nach ein paar Sekunden merkte er, dass er alles voll im Griff hatte. Er hatte keine Ahnung, warum, aber so war es eben. Wenn er nach rechts fliegen wollte, flog er nach rechts, senkte wie ein Paraglider die rechte Flügelspitze ab. Er kreiste und ging runter und stieg wieder hoch, ganz hoch, und ging in freien Fall, um wieder ganz hoch aufzusteigen. Es war toll, total und absolut herrlich.
Henry flog immer höher. Er spürte den Wind auf seinem Gesicht und die Begeisterung in seiner Brust. Bald hatte er das Gefühl, den Himmel berühren zu können.
Er streckte die Hand aus und berührte den Himmel wirklich. Die blaue Kuppel war überhaupt kein Himmel – sondern eine Decke. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Hammer. Er befand sich in einem riesigen Zimmer. Was er für Baumstämme gehalten hatte, waren Stuhlbeine. Der Horizont war eine Wand. Dieses merkwürdige Gebilde in der Ferne war ein Bett. Dort standen auch ein Frisiertisch, eine Kommode, ein Kleiderschrank. Der »Hügel«, den er zum Abspringen benutzt hatte, war ein Kleidungsstück, das jemand verkrumpelt auf dem Boden liegen gelassen hatte.
Aber von wegen riesiges Zimmer. Das Zimmer war überhaupt nicht riesig! Er war geschrumpft. Auf einmal passte alles zusammen. Die merkwürdigen Perspektiven. Der fehlende Biofilter der Portalbedienung. Er war doch im Palast herausgekommen – in irgendeinem Schlafgemach –, bloß hatte er sich dabei verwandelt.
Er flatterte zum Frisiertisch hinab und besah sich in dem hoch aufragenden Spiegel. Er war ein Elf. Von dem Muster seiner Flügel einmal abgesehen sah er genau wie Pyrgus aus, als sie sich kennen gelernt hatten. Er war ein Elf und konnte fliegen! Er hätte am liebsten einen Freudentanz hingelegt.
Dann sah er die Spinne.
Zweiunddreissig
A uf dem Rasen vor dem Palast stand die Palastwache in Formation. Pyrgus schritt sie mit so viel Würde ab, wie er aufbringen konnte. Blue war an seiner Seite. Mr Fogarty ging feierlich drei Schritte hinter ihnen, das Gesicht unbewegt. Sie hatten die kurze Zeit, die ihnen geblieben war, dazu genutzt, sich in Amtstracht zu kleiden, um der ganzen scheußlichen Angelegenheit den Anstrich eines Staatsaktes zu verleihen.
Comma stand beim Haupttor und lächelte selbstgefällig. »Ich möchte nicht, dass du mir irgendwelchen Ärger machst, geliebter Halbbruder«, sagte er, als Pyrgus bei ihm ankam. »Falls
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