Der rote Salon
fragte ich die mir angetraute Enzyklopädie und zog das kleine Drahtkreuz unterm Revers hervor.
Jérôme besah es sich und nickte, während er behutsam denAnsatzstutzen des Tubus an der Laterna magica ein wenig bog, worauf die letzten Unschärfen der Projektion verschwanden.
»Das Kreuz der Swedenborgianer! Das ist durchaus keine Geheimlehre, mein Schatz! Wenigstens andernorts nicht. Es gibt schon Gemeinden, in denen die Lehre des Schweden gepredigt wird: die meisten in England und sogar eine in den Vereinigten Staaten. Ich weiß es, weil unser Freund Pentland mir davon schrieb. Alter schützt vor Torheit nicht; im Gegenteil, man wird anfälliger für den Kultus des höchsten Unwesens. In Berlin wird der Justiz- und Kirchenminister Wöllner derlei nicht gutheißen. Ich weiß nicht, was ihm an Swedenborg nicht gefällt, vielleicht ist er neidisch. Der Schwede ist einer der genialsten Naturwissenschaftler seiner Zeit gewesen. Dagegen ist Herr Oberkonsistorialrat und Geheime Staatsminister Wöllner ein Floh.«
»Was glauben sie denn eigentlich, diese Jünger Swedenborgs? Dass wir alle zu Gespenstern werden und wiederkommen?«
Jérôme wechselte das Bild, und ein schreckliches Gespenst erschien, in Dunst eingehüllt. Es hielt eine Sense in der knochigen Linken, die weiß und kalt unterm Laken hervorstach. Die Kapuze ließ nur wenig vom Gesicht erkennen: das Punktedreieck von leeren Augenhöhlen und Nasenöffnung sowie ein scheußliches Zahnband … Es war die Arbeit des kleinen Gaspard, meines Urgroßneffen, der ein beachtliches Talent beim Malen und Zeichnen hatte und sich im Pinseln des Lakengeistes immer weiter vervollkommnete. Seine Mutter schickte ihn zu Madame Tassaert, die ihm gegen Naturalien Stunden gab. Sie war gänzlich überzeugt von seiner Begabung.
»Nein, das nicht. Dass das eigentliche Leben erst nach demTod beginnt, im himmlischen Jerusalem, und dass alle Menschen erst nach eingehender Prüfung – durch die Versuchungen des irdischen Sündenpfuhls nämlich – ihre wahre Bestimmung gefunden haben werden und im Drüben, im Dort und Dermaleinst, ein beschauliches, gutes, erfülltes Leben führen werden. Bis in alle Ewigkeit.«
»Amen«, spöttelte ich. Auf
alle Ewigkeit
passte nur
Amen
.
»Was meinst du – beginnt unser Eheleben im Jenseits noch einmal?«
Er lächelte spitzbübisch und schob den Streifen weiter. Sogar die Unterschrift zu dem Bild, auf dem man sehen konnte, wie ein Priester mit Bibel und Kruzifix den Sensengeist verscheuchte, war klar zu lesen:
Lux lucet in tenebris – Das Licht leuchtet in der Finsternis
. Ich fügte meiner Frage noch hinzu:
»Wer weiß, ob ich dich dort, im ewigen Jenseits, noch mal nehme … Männer, die immer das letzte Wort haben müssen, sind im Jenseits am richtigen Platz. Und sie brauchen eigentlich kein Gegenüber. Sie können ihr letztes Wort in der letzten Welt auch für sich behalten.«
Er lachte. Mich wurmte meine Unwissenheit. Ich ertrug es schwer, dass er immer alles gelesen zu haben schien und alles glaubte schon längst verstanden zu haben. Oft war dem gar nicht so, aber er gab sich den Anschein. Ich hatte wenig gelesen im Vergleich, das mochte sein, doch ich war schnell im Begreifen und Lesen, viel schneller als er, der mir darin oft vorkam wie eine Schnecke. Wieder hielt er Kolleg:
»Es waren die Zoroastristen, die das unheilige Gespenst der Reinheit in die Religion brachten! Weises Denken, weises Reden, weises Wirken. Feuer hatte eine zentrale Bedeutung bei Zarathustras Jüngern. Die Priester waren Feuermagier, die es – nicht ohne Paravent – entfachten und hüteten.«
»Paravent?«
»Ein weißes Tuch vor dem Gesicht, das die reinen Flammen vor dem üblen Mundgeruch schützen sollte!«
»Wie ging es weiter mit der Reinheit? Gerafft, wenn ich dich bitten dürfte!«
»Die Patarener, Pateriner, Albigenser oder Katharer – die Bogomilen, anders gesagt – brachten den Kult der Reinheit zur Blüte. Sie nannten sich die
veri cristiani
, die wahren Christen!
Boni homines
oder
bonhommes
: die Gutmenschen! Das ist die Linie zu Swedenborgs
gutem Jenseits
. Die innerste Kaste der Albigenser, die
perfecti
, begingen Selbstmord, der gehörte zum Programm, das Wort dafür war
endura
! Sie aßen nichts mehr, bis sie tot waren: ganz tot, ganz rein und vollkommen gut. Für diese Lehre wurden die Katharer verfolgt und im 14. Jahrhundert vom Papst ausgerottet. Die Katholiken machten sich die Volksethymologie zunutze und nannten sie
cattari
, Anbeter
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