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Der rote Salon

Der rote Salon

Titel: Der rote Salon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Wolf
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sehr beschwingt und voller Bourgogner. Immerhin, bis nach Hause hatte er es ja nicht weit. Zweimal um die Ecke und Heim war daheim.
    Ich schlief kurz und tief, wachte weit vor der Zeit schon auf. Nach dem Frühstück bereits wäre ich am liebsten zum Amalienpalais gelaufen, doch es war noch viel zu früh. Ich setzte mich, zur Beruhigung, ein wenig an unseren Basteltisch, wo mich Jérôme, ungläubig schauend und lauthals gähnend, gegen acht schon fand. Unser Kater, den wir den
dicken Willem
nannten, äugte schläfrig und ohne Verständnis auf meine Betriebsamkeit. Jérôme unternahm einen letzten vergeblichen Versuch, mich von meinem Vorhaben abzubringen, doch ich blieb unbeirrt.
    »Ich muss noch einmal in aller Ruhe in den Salon, in dem es geschehen ist. Nachher treffen wir uns an der Ehrenpforte für die Bräute.«
    »Du bist verrückt!«, sagte er, was mich fuchsteufelswild machte.
    »Sag das nie mehr! Du weißt, dass du das nicht sagen sollst!«
    Er lachte zwar, aber er wusste, dass er nun besser schwieg. Ich war zwar oftmals in Gedanken anderswo als die Übrigen, aber ich wusste doch immer, was ich tat … wenn auch mitunter erst, nachdem ich es getan hatte. Das ließ mich oft Wagnisse eingehen, ohne die kein Fortkommen wäre. Oh, wie ich es hasste, wenn er mich nicht ernst nahm! Er küsste mich, halb einsichtig, halb spöttisch, und hauchte:
    »Gib auf dich Acht, verdammt! Oder lass mich mitkommen, damit ich auf dich aufpasse!«
    Immer glauben sie, dass sie auf einen aufpassen müssen, dabei haben sie selbst Aufpasserinnen nötig.
    »Nein. Du würdest mich ablenken. Ich würde dich ablenken. Man kann nicht frei agieren, wenn man stets auf das Liebste Acht geben muss.«
    Er fügte sich drein, wohl wissend, dass ich nicht mehr zu bremsen war, wenn die Worte
frei agieren
fielen. Ja, er gab mir seine Armeepistole, die er offenbar schon sorgsam geladen hatte, und sagte:
    »Wenigstens die hier nimm mit. Dann kann ich ein bisschen beruhigter sein. Ich entsinne mich gut, wie du Goethes Schwager in Sankt Peters Parish an der Schießbude ausgestochen hast.«
    Wenn es etwas gab, worauf ich stolz sein konnte, dann war es in der Tat mein gutes Auge.

6
    Im Geiste stemmte ich bereits den Salonboden auf oder suchte nach Tapetentüren, als ich vom Octogon Richtung Rondell den Zollweg hinter der Akzisemauer entlanglief, eine Umhängetasche mit dem Parry, dem de Paul’schen Kompositions-Hauptbuch und der Pistole über der rechten Schulter. Das Wetter hätte nicht schöner sein können für die Ankunft der hohen Bräute. Für meine Zwecke hingegen war es nicht unbedingt geeignet. Den Fußgängern blieb das Eierlaufen auf Eis und Schnee nirgends erspart. Und bei rollendem Straßenverkehr an Engstellen half oft nur noch der rettende Sprung.
    Ein Fuhrwerk setzte zum Überholen an und zwang mich, in den tief verwehten Graben zu rutschen. Hosen! An diesem Morgen wünschte ich sehr, sie wieder ungeniert öffentlich zu tragen … Der Schnee staute sich nicht nur zwischen halblangem Marderpelz und schwarzer, brokatener Schoßjacke, sondern auch unter meinem langen Rock aus schwarzer Ballonseide. Fluchend bemühte ich mich, die wollenen Pantalons darunter abzuklopfen, konnte es aber nicht vermeiden, dass etwas Nässe in die Stiefeletten zog. So was macht mich rasend! Aber es hatte auch sein Gutes, denn nur mit Hass im Bauch ist man wach und zu allem fähig. Links tauchte endlich der Garten des Palais Vernezobre auf. Noch im ruinösen Zustand, mit den verwilderten Blickachsen und verschossenen Hecken, gab er ein herrschaftliches Bild ab, natürliches Spiegelbild einer überkommenenalten Ordnung. Hineinzugelangen war nicht schwer: Eine große Lücke klaffte in der ohnehin niedrigen Einfriedungsmauer, die nur dazu diente, Fässer oder Säcke aufzuhalten, welche von klapprigen Transportwagen dort sicher gerne herabfielen. Das weitere Vordringen war mühsam. Schon nach wenigen Schritten versperrte mir eine gefällte Sommerlinde den Weg. Auch unter Aufbietung all meiner Geschicklichkeit überwand ich sie nicht. Der zum Teil seiner Äste beraubte Stamm war vereist und ragte zu hoch auf, um überklettert zu werden. Am Kopfende und auch unten bildeten die Äste ein schier undurchdringliches Spalier.
    Ich lief drum herum und blickte mit Bedauern zu den Kronen all der übrigen stattlichen Bäume hinauf: Eichen, Buchen, Ulmen, Fichten. Die ganze ehrbare Baumgesellschaft würde über kurz oder lang zu Brennholz; selbst den Wurzelstock der Linde

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