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Der rote Salon

Der rote Salon

Titel: Der rote Salon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Wolf
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hatte man auszugraben begonnen.
    Im vorderen Parkteil ging es besser, und ich kam jetzt recht gut voran. Man sah die Rückfront des Palais schon durch die Stämme scheinen. Erst jetzt fielen mir die Fährten auf, denen ich bereits seit der Einstiegsstelle in den alten Park gefolgt war: vier Linien menschlicher Tritte, sich mitunter überlagernd. Die Spuren führten weiter bis zum Palais. Zwei hin, zwei her.
    Je näher ich dem Palais kam, desto eifriger, chaotischer allerdings hatte sich die Polizeiarbeit im Schnee abgedrückt. Nicht dass man die Spuren nicht entdeckt und nicht verfolgt hätte – doch es hatte eine sichtliche Weile gedauert, bis der Gedanke daran aufgekommen und die Weisung seitens Distels ergangen war, die amtlichen Schritte überlegter und geregelter zu setzen.
    Im Schutz eines dicken Ulmenstammes beäugte ich das große alte Haus, das jetzt nur noch einen Steinwurf entfernt stand. Alles schien ruhig und unbelebt. Ob sich hinterden Fenstern etwas regte oder nicht, konnte ich jedoch schwer abschätzen. In der Nacht mochte das einfacher sein, vorausgesetzt, die Räume wären vom Lampenschein erhellt. Ich stand unsicher und schaute zu Boden. Hier sah ich Fußtritte, die auf eine kleine Fläche konzentriert waren. Einer der Holzarbeiter hatte wahrscheinlich sein Wasser abgeschlagen, dachte ich und griente. Doch der Schnee an der Stelle war weiß.
    Ein ungeheuerlicher Gedanke kam mir: Der Mörder könnte an genau dieser Stelle gewartet und die erleuchtete Front der Mâconnais-Rambouillon’schen Etage inspiziert haben! Mein Herz begann rascher zu klopfen. Vorsichtig und in weitem Bogen ging ich zurück, um den Verlauf der Fußspuren im Schnee, an denen ich im rückwärtigen Parkteil entlanggelaufen war, klarer aufzufassen.
    Zwei der vier Zweierreihen von Abdrücken liefen nach vorn auf das Gebäude zu, zwei zurück in den wilden Park. Beim genaueren Hinsehen bemerkte ich, dass sie zu drei verschiedenen Personen gehörten! Nur einer hatte beide Wege zurückgelegt: hin und her. Einer war nicht zum Gebäude hin, sondern nur von ihm weggelaufen, einer bloß darauf zugegangen, aber nicht wiedergekehrt … An einer Stelle aber war das Bild gestört: Die eine der zum Palais hinführenden Spuren scherte aus und machte einen kleinen Umweg – über die zertrampelte Stelle, an der ich zuerst gestanden hatte. Ob man die Tritte genauer vermessen könnte? Ich bückte mich und legte meine Hand anderthalbmal hinein. Ein breiter Schuh, ein Männerschuh, keine Holzpantine, sondern eine genagelte Sohle, vorne leicht spitz zulaufend.
    Der Träger gehörte unzweifelhaft auch zu denen, die weiter rechts in den Garten zurückgelaufen waren. Die andere vom Palais wegführende Spur zeigte eine ebenfalls genagelte Sohle, aber flache Kante. Ich schlich mich unter dieverschneite Ulme zurück. Mein Urgroßvater hätte mich angehalten, mir alles in ein Notizbuch zu schreiben, doch ich brauchte so etwas noch nie. Was ich einmal sehe, steht mir – wenn es wirklich wichtig ist – dauerhaft plastisch vor Augen.
    Als ich den Boden genauer betrachtete, fielen mir einige kleine schwarze Punkte auf, die den Schnee auflockerten. Hatte ich Bohnen auf den Augen, oder waren das wirklich …? Doch, ja! Ob Distels Offiziere sie wohl bemerkt und für wichtig gehalten hatten? Es waren jedenfalls eindeutig Kaffeebohnen!
    In einem vielleicht günstigen oder gefährlichen Moment hatte der Wartende den Posten eilig verlassen, wie an der Spur zum Haus hin abzulesen war. Die Abstände zwischen den Tritten waren groß, die Abdrücke tief, zerwühlt und kurz. Er war auf dem gleichen Weg hineingelangt, wie ich es plante. Ob ihm ebenfalls die Tür geöffnet worden war? Ich hüpfte über das Schneefeld des einstigen flachen Zierrasens, der jetzt eher einer holperigen verschneiten Kuhweide glich, zur rückwärtigen Tür. Es gab zwei davon, doch die linke war vernagelt, wie ich im Laufen sah. Mein Herzschlag glich einem Trommelwirbel, als ich die Klinke drückte. Die Kirchenglocken läuteten. Punkt zehn. Hatte de Paul Wort gehalten? Im ersten Moment glaubte ich, die Tür würde sich nicht bewegen. Dann tat sie es doch, und sein bleiches Gesicht erschien im Spalt.
    »Kommen Sie rasch, aber seien Sie mucksmäuschenstill! Die Hausherrin ist noch da … Solange sie spielt, sind Sie sicher.«
    Die Harfentöne perlten süß durchs dunkle Treppenhaus. Die ausgetretenen Stufen waren aus echtem Marmor, desgleichen die teils rüde abgeschabten Täfelungen. Bis in

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