Der Ruf des Abendvogels Roman
hatte von Anfang an Recht – er ist ein schrecklicher Mensch.«Eine Stunde später war Victoria wieder oben im Festsaal. Sie fand Tara allein auf dem Balkon vor. Riordan war fortgegangen, um Getränke zu holen, und Ethan und Maddy standen am äußersten Ende des Balkons und unterhielten sich. Belle und Lottie hatten Charlie und Bluey auf die Tanzfläche gelotst, und wenn Victoria nicht so aufgewühlt gewesen wäre, hätte sie sicher herzlich über den Anblick gelacht, den sie boten: Charlie war ungefähr so gelenkig wie ein Betrunkener in einem Dorngestrüpp, und Bluey schien sich für Fred Astaire zu halten.
»Du weißt, wo Nugget ist, nicht wahr, Tara?«
»Ja, Tante Victoria – wenn er sein Lager nicht inzwischen verlegt hat.« Tara sah sofort, dass ihre Tante innerlich sehr erregt war.
»Kannst du ihn gleich morgen früh hierher holen?«
»Natürlich. Ist irgendetwas vorgefallen?«
Victoria schloss die Augen und versuchte, die schreckliche Szene zu vergessen, die sich ihr vor kurzem geboten hatte. »Ich habe gerade Tadd dabei überrascht, wie er ... sich an Nerida verging.«
»Oh mein Gott! Wo ist er jetzt?«
»Fort.«
»Aber er ist doch hoffentlich nicht ... der Vater ihres Kindes?« Tara fand diese Möglichkeit sehr beunruhigend.
»Doch, ich denke schon. Nerida ist im Moment zu durcheinander, um mir viel zu erzählen. Aber ich bezweifle, dass er heute Abend zum ersten Mal bei ihr war.«
»Er ist ein durch und durch schlechter Mensch.« Tara dachte an all das, was sie ihrer Tante nicht erzählt hatte – doch es war alles nichts im Vergleich mit der Tatsache, dass er Nerida vergewaltigt hatte.
»Ich habe ihn entlassen. Wenn er jemals wieder einen Fuß auf unser Land setzen sollte, werde ich ihn eigenhändig erschießen.«
»Oh Tante Victoria – ich weiß, dass du jetzt furchtbar enttäuscht von ihm bist. Aber du hast genau das Richtige getan.« Tara fand, dies sei der passende Moment, um ihrer Tante die ganze Wahrheit über Tadd Sweeney zu erzählen. »Ich habe dir einigesbisher verschwiegen, weil ich fand, das du schon genug Sorgen hattest – aber ich habe William Crombies Brief in seinem Cottage gefunden.«
Victoria wirkte einen Augenblick fassungslos, doch dann senkte sie resigniert den Kopf.
»Er hatte außerdem alle Briefe von der Bank abgefangen, damit du nichts von dem Darlehen erfährst. Es tut mir so Leid, Tante Victoria!«
»Ich wünschte nur, ich hätte schon viel eher auf dich gehört, Tara. Aber ich hielt ihn für meinen Freund und Vertrauten. Mein Gott, es gab sogar eine Zeit, da wollte er mich heiraten!«
Das überraschte Tara nicht – sie hatte immer vermutet, dass die beiden mehr als Freunde waren. »Ich glaube, er wollte Tambora, und er war bereit, alles dafür zu tun.«
Victoria dachte an das Testament, das sie einmal zu seinen Gunsten verfasst hatte, und meinte mit einem Seufzer: »Er wird nie erfahren, wie nah er seinem Ziel gekommen ist.«
34
S ie wollten mich sehen, Missus?« Es war sechs Uhr dreißig am Morgen, und Nugget stand mit seinem Hut in der Hand auf der Veranda, wo Victoria ihn erwartet hatte.
»Danke, dass Sie gekommen sind, Nugget«, meinte Victoria und sah Tara an, die erwartungsvoll hinter dem Aborigine stehen geblieben war. »Hat Tara Ihnen erzählt, dass ich Tadd gestern Abend entlassen habe?«
Nugget bekam große Augen. »Nein, Missus.« Er wandte sich zu Tara um und wartete darauf, dass sie Victorias Worte bestätigte. Er hatte nicht mehr daran geglaubt, diesen Tag noch zu erleben.
Tara nickte und sah ihre Tante an. »Ich dachte, ich lasse dich am besten alles erklären.« Sie wusste nicht, wie viel ihre Tante den Männern sagen wollte.
Victoria ließ ihren Blick über die weite, staubige Ebene schweifen, die Sonne und Wind schon wieder völlig ausgetrocknet hatten. »Ich wollte nicht glauben, dass er so schlecht war, Nugget. Obwohl es immer mehr Anzeichen dafür gab. Ich musste es erst selber sehen.« Victoria ging zu einem Stuhl und ließ sich müde darauf sinken. »Gestern Abend habe ich Tadd dabei überrascht, wie er ... Nerida vergewaltigte. Das war zu viel.«
Nugget senkte den Kopf. Er hatte selbst schon vermutet, dass Tadd Nerida Gewalt antat, doch sie hatte ihm nichts sagen wollen. Wahrscheinlich hatte sie insgeheim gefürchtet, dass ihr Volk etwas unternehmen würde, und sie wollte nicht, dass Victoria etwas geschah. Als Nugget über das ›Buschtelefon‹ gehört hatte,dass sie schwanger war, hatte er ihr angeboten, sich um sie zu
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