Der Schattensucher (German Edition)
zu verteidigen. Tage und Nächte opfern sie, damit kein Fleck Mauer jemals unbewacht ist. Wenn es einem Mann gelingt, unbemerkt in die Festung einzudringen und eine Scheune in Brand zu setzen, dann handelt es sich um den fähigsten Gegner, den ich jemals hatte. Wir haben ihn gesehen und vertrieben. Nie werde ich diesen flatternden Mantel vergessen, als er vom Dach der Meskanhalle in den Fluss sprang. Wir haben ihn vertrieben, aber wir haben ihn nicht getötet. Ein Mann wie er wird wiederkommen, bis er sein Ziel erreicht hat oder bis er tot ist. Ich werde es nicht zulassen, dass er sein Ziel erreicht.« Er hielt inne, ging zu Levin und bückte sich zu ihm hinunter, sodass er ihm direkt ins Gesicht sah. »Also: Ihr seid Euch sicher, dass Ihr die Wahrheit sagt?«
Levin roch das Gänsefleisch aus Jasons Mund. Es war das erste menschliche Anzeichen, das er bei dem Hauptmann wahrzunehmen glaubte.
»Warum sollte ich lügen?«
»Vielleicht, weil Ihr mich täuschen wollt?«
»Euch täuschen? Ich sehe Euch zum ersten Mal.«
»Und wieso habt Ihr ihn bestohlen? Weshalb habt Ihr den Mantel nach Briangard gebracht?«
»Nun«, Levin tat verlegen, »ich ging natürlich davon aus, dass der Graf nicht arm ist. Ich hatte gehofft, für meinen wertvollen Hinweis auch entsprechend … nun ja, belohnt zu werden.«
»Meine Güte, Euer Weingut muss wirklich kümmerlich sein. Euch ist klar, dass Ihr hier brianischen Interessen dient?«
»Meine Frau ist Brianerin.«
»Und Ihr seid Alsuner.«
»Also müssen wir uns entscheiden, auf welcher Seite wir stehen. Wir haben uns für Briangard entschieden.«
Jason wandte sich ab und ging hinter den Tisch zurück. »Das ist Unsinn. Man wird als Brianer geboren oder nicht.«
»Ihr wollt mich also zurückschicken?«
»Noch nicht. Ihr werdet hier in der Festung bleiben, bis ich herausgefunden habe, ob Ihr die Wahrheit sagt. Es gibt noch einiges, was Ihr mir über diesen Mann erzählen müsst. Solltet Ihr lügen, käme Euch das teuer zu stehen. Solltet Ihr nicht lügen, könnt Ihr Eure Belohnung haben und nach Hause fahren.«
»Dann bin ich Euer Gefangener?«
»Ja und nein. Ihr könnt Euch frei bewegen. Aber Ihr steht unter Aufsicht.« Er rief einen Bediensteten herbei und bat ihn, Levin und Elena in ihr Quartier zu bringen.
Es war Mittag, als sie ihre erste Mahlzeit auf Briangard verzehrten, begleitet von den ausdruckslosen Blicken der schwer bewaffneten Soldaten.
15. Kapitel
Briangard, Jahr 304 nach Stadtgründung
Nur selten waren Levin und Elena ungestört. Selbst wenn sie sich nachts in ihr Quartier zurückzogen – ein Schlafzimmer mit kahlen Wänden in der Kaserne –, konnten sie nicht sicher sein, dass man sie vor der Tür nicht belauschte.
In der ersten Nacht zankten sie in der engen Koje um die Decke. Für die zweite Nacht besorgte sich Levin eine weitere Decke, sodass er neben der Koje schlafen konnte.
»Hättest mich ja nicht mitzunehmen brauchen, wenn du deine Ruhe haben willst. Dann wär mir der ganze Unsinn erspart geblieben«, stänkerte Elena im Flüsterton.
»Ich hatte dir gesagt, dass wir länger hierbleiben«, gab Levin von seinem unbequemen Holzboden zurück.
»Toll. Und was machst du nun den ganzen Tag?«
»Du musst es unbedingt wissen, wie?«
»Verdammt, mir ist langweilig und die Soldaten überall gehen mir auf die Nerven.«
»Du weißt doch, wie man sie ärgert.«
»Früher ging das. Jetzt sind die alle so korrekt. Es hat gar keinen Sinn, sie zu provozieren.«
»Vielleicht sollte ich darüber glücklich sein. Dann machst du schon keinen Ärger.«
»Sag mal: Ist das nun wahr mit diesem Einbrecher oder hast du das alles erfunden?«
»Solange ich dir nichts anderes sage, ist es wahr.«
»Du behandelst mich wirklich großartig, dafür, dass ich dich hier eingeschleust habe.«
»Dann ist es wohl das Beste, wenn du jetzt endlich schläfst.«
»Mistkerl«, sagte sie und nickte bereits ein, als Levin gerade begonnen hatte, seine Ideen für den nächsten Tag zu entwickeln. Erst um Mitternacht schlief er ein.
Tagsüber erkundete er den Hof und versuchte so viel Wissen über diesen Ort zu sammeln wie möglich. Mit jedem Gespräch verstärkte sich das Gefühl, dass es nahezu unmöglich war, ohne besonderen Grund in den Innenhof, geschweige denn in den Palast zu gelangen. Knechte, Soldaten, Bauern, Handwerker, sie alle hatten sich offenbar damit abgefunden, dass der Vorhof für immer ihr einziger Lebensraum sein würde. Nichts schien dabei ihren Stolz und ihre
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