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Der schwarze Regen

Der schwarze Regen

Titel: Der schwarze Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Flavio Soriga
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Zubetonieren einer Landschaft oder eine neue Autobahn verhindert, tut man damit niemandem einen Gefallen, denn die Anständigkeit interessiert doch niemanden, niemand will mehr Gerstenbrot oder Lockpfeifen aus zartem Rohr blasen, niemand hat auf den Rat des Alten gehört, niemand hat Angst vor den Bauchschmerzen, vor der Gefahr, die Frauen zu Huren zu machen.
    Nehmen wir nur Ihren Freund: Was ist dieser Giovanni denn im Grunde? Ein empörter Kritiker, der sich in dieser Rolle gefällt, einer, der etwas anderes geworden ist, als man in seinem Dorf seit jeher gewesen ist, der gelernt hat, das Beste der Stadt und des Kontinents anzunehmen, und nur ab und zu packt ihn die Reue, überkommt ihn die schmerzliche Erinnerung daran, wie schön die Welt früher war, wie schön die Welt wäre, wenn sie sich nicht geändert hätte. Aber wenn wir noch zur Zeit der Herren und der Schäferknechte lebten, Signor Maresciallo, denn wäre Ihr Freund ein Bauernknecht und Sie ein Schäferknecht und es gäbe keine Mülldeponien, aber auch keine Geliebten in der Stadt, erreichbar in einer halbstündigen Fahrt.
    Es reicht, sagte Crissanti, erhob sich erneut, ging zu einem Fenster, blickte hinaus, gerne wäre er fortgelaufen, ins Dorf zurückgekehrt, Hören Sie auf, das führt doch nirgendwohin, das führt doch zu nichts. Und außerdem reden Sie genau wie Giovanni, wissen Sie das? Der gleiche Zynismus, völlig identisch.
    Von Zynismus kann keine Rede sein, Maresciallo, werden Sie nicht banal, versuchen Sie mir zuzuhören. Ich komme auf den Punkt, denn das ist es ja, was Sie wollen, kommen wir zu einem Ende. Und dieses Ende läuft auf die Frage hinaus, Was machen wir jetzt, und ich antworte Ihnen sofort, und damit schließe ich ab, was ich vorhin gesagt habe, und werde noch einmal sehr praktisch: Ich glaube nicht, dass die Schuldigen bestraft werden müssen. Ich glaube nicht, dass das eine mögliche Aufgabe ist, es scheint mir übertrieben, utopisch, eine rhetorische Verstellung des Systems.
    Was in Wirklichkeit von mir verlangt wird und von Ihnen verlangt wird, ist, die Schuldigen zu verfolgen, die als solche empfunden werden, auf die allgemeine Empörung zu hören, sie zu beschwichtigen. Das klingt etwas banal, aber so kann ich mich besser verständlich machen: Wenn in zehn oder zwanzig Jahren die sogenannten Leute, die Masse, wegen einer Mülldeponie, wegen einer zubetonierten Küste auf die Barrikaden gehen, dann wird es unsere Aufgabe sein, den Schuldigen zu suchen. Wohlgemerkt, das geschieht bereits, in Dörfern, in denen man sich wegen solcher Dinge aufregt, aber nicht jetzt und nicht hier. Auf dieser Insel müssen wir im Augenblick eine andere Empörung beschwichtigen, ein anderes Ungeheuer suchen: dasjenige, das eine Frau getötet hat, eine Geliebte vermutlich: Und wenn dieses Ungeheuer ein Priester ist, umso besser, denn er hat sich doppelt schuldig gemacht, und auch der Seufzer, den wir alle ausstoßen werden, wird ein doppelter sein, wenn wir wissen werden, dass er hinter Gittern sitzt, leidet und bezahlt, fern von uns, daran gehindert, weiteres Unheil anzurichten.
    Sie sehen also, den Kriminellen, den es zu verfolgen gilt, gibt es, und Ihre Aufgabe ist es, ihn zu verfolgen, nämlich diesen durch und durch bösen Menschen, der Marta Deiana getötet hat, und damit sind wir wieder am Anfang.
    Oder wir sind nirgendwo, sagte Crissanti, auf dem Weg zur Tür, Wie Sie meinen, erwiderte der Richter schnaubend und hob eine Hand, um seinen Gast zu verabschieden, Auf Wiedersehen und viel Erfolg, Maresciallo, der Carabiniere nickte zum Abschied und ging auf den Korridor hinaus, Ich scheiß drauf, schrie er, ein Amtsdiener drehte sich um und sah ihn schief an, Ich scheiß auf alle, er versuchte sich auf Marta zu konzentrieren, auf ihren im Blut liegenden Körper, versuchte sich zu motivieren, weiterhin zu gehorchen, sich seinerseits zu empören, stärker, als es ihm möglich war, den Mörder ein Ungeheuer zu nennen, in Alberto den Schuldigen zu sehen, ihn zu hassen, um ihn besser bestrafen zu können, er fragte sich, ob ein anderer in diesem Augenblick in der Welt diese Last zu tragen imstande sei, eine Frau getötet zu haben, ohne dafür zu bezahlen, er fragte sich, ob der Mörder nachts schlafen könne, mit der Erinnerung an Marta in den Augen, ob er nicht bereits seine Strafe verbüßte, wer immer er auch sein würde, wenn er ihn schließlich gefunden und ins Gefängnis geworfen haben würde.

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    Sie hatten den Motor noch nicht abgestellt,

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