Der Sehnsucht verfallen: Roman (German Edition)
Temperament, seine Verschlagenheit. Ihre Mutter hatte sie oft vor diesen Eigenschaften eindringlich und immer wieder gewarnt.
Wieder grollte ein Donner. Es hörte sich weit entfernt und doch zugleich nah an. Und wieder schlich sich Unbehagen in ihre Gedanken. Die Geräuschkulisse der Natur würde jeglichen Lärm übertönen, und Isobel hatte keine Chance, ihren Widersacher zu hören, wenn er sich ihr näherte.
Noch dunklere Wolken zogen sich über dem Burghof zusammen und tauchten alles in ein unheilvolles Halbdunkel. Hätte sie doch bloß eine Fackel mitgebracht! Doch für diese Erkenntnis war es jetzt zu spät.
Ehe ihre Augen sich an die neuen Lichtverhältnisse hatten gewöhnen können, nahm sie die Gegenwart einer zweiten Person wahr. Rechts von ihr bewegte sich etwas in den grauen Schatten, und noch bevor sie reagieren konnte, tauchte keine zwanzig Schritte von ihr entfernt eine große, schemenhafte Gestalt auf.
Instinktiv legte sie die Armbrust an. Ihr blieb keine Zeit, die Entfernung zum Ziel richtig zu schätzen, zudem besaß sie keinerlei Erfahrung mit dieser Art von Waffe. Sie feuerte den Bolzen ab und hoffte, er würde den Gegner treffen.
Im gleichen Moment traf sie etwas von rechts und riss sie von den Beinen. Die Armbrust flog ihr aus den Händen, als sie auf den Boden prallte. Schmerzen zogen sich über ihre Seite, da sich das Kettenhemd in ihr Fleisch schnitt. Ein Meer aus gelbem Stoff bedeckte ihr Gesicht, während sie nach Luft schnappte und gegen ein Schwindelgefühl ankämpfte.
Links von ihr ächzte jemand wie unter Schmerzen, und das Geräusch stammte eindeutig nicht von ihr. Hatte ihr Geschoss ins Ziel getroffen? Sie musste herausfinden, wer der Unbekannte war. Als sie jedoch versuchte, sich von dem Stoff zu befreien, der über ihr ausgebreitet war, da musste sie feststellen, dass ihr das nicht möglich war. Etwas drückte sie zu Boden, und die Anstrengung ließ sie nach Luft ringen, was ihr aber nur mit kurzen, schmerzhaften Atemzügen gelingen wollte.
Als der Schwindel nachließ, wurde ihr schließlich klar, dass nicht ihr schweres Kettenhemd sie bewegungsunfähig machte, sondern ein auf ihrer rechten Seite ruhendes Gewicht. Zögerlich hob sie die Hand und berührte warmes Fleisch, was sie vor Schreck aufkeuchen ließ.
»Ruhig«, zischte ihr eine Frauenstimme ins Ohr. »Ein Geräusch oder eine Bewegung und Ihr seid tot.«
Aus dem Ächzen wurde ein Stöhnen, dann ein tiefes Heulen, bei dem sich Isobels Nackenhaare sträubten. Obwohl ihr Ellbogen schmerzte, da der durch das zusätzliche Gewicht auf den steinigen Untergrund gedrückt wurde, lag sie reglos da.
»Ich kann das nicht!«, rief eine Männerstimme, dann waren Schritte zu hören, die sich rasch in Richtung Feste entfernten. Einer der Schurken entkam, der andere presste sie auf den Boden. Isobel weigerte sich, den Druck auf ihrer Brust zur Kenntnis zu nehmen. Stattdessen sammelte sie ihre Kräfte, gab sich einen Ruck und schleuderte ihren Widersacher fort
Sie rappelte sich hoch und suchte den Boden nach ihrer Armbrust ab. Die dichte, dunkle Wolkendecke hatte den Burghof nach wie vor in ein undurchdringliches Grau getaucht, das sie nur mit viel Mühe erkennen ließ, dass ihr zweiter Gegner sich ebenfalls erhob.
»Ich bin keine Bedrohung, Ihr dummes Ding! Ich bin hier, um Euch das Leben zu retten. Aber wenn Ihr mir nicht folgt, wird das schlicht unmöglich.«
»Fiona?«
»Ich bin gekommen, um Euch zu helfen.«
Ein erneuter Donnerschlag machte einen Moment lang jede Unterhaltung unmöglich. »Und warum sollte ich Euch vertrauen?«
Ein blasser bläulicher Blitz zuckte über den Himmel und erlaubte es Isobel, Fionas zerknirschte Miene deutlich zu sehen. »Ich weiß, ich habe Euch keinen Grund geliefert, mir zu vertrauen, dennoch bitte ich Euch darum.«
Isobel musterte sie kritisch. »Wer hat mich angegriffen? Wart Ihr das?«
»Ich vermute, es war Walter.«
»Walter? Wieso er?«
Fiona schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, Ihr seid weiterhin in Gefahr. Wir dürfen keine Zeit verlieren.«
Wieder zerriss ein tiefes, dröhnendes Grollen die Luft, ein Geräusch, das allmählich näher kam und schließlich ohrenbetäubend laut wurde.
Isobel rührte sich nicht von der Stelle. »Habt Ihr die Küchenmagd umgebracht?«
»Für so etwas haben wir jetzt keine Zeit«, drängte eine panisch dreinblickende Fiona. »Könnt Ihr sie hören?«
»Wen?«, fragte sie, nachdem der nächste Donnerschlag verhallt war.
»Die
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