Der seltsame Mr Quin
Seiten waren die Berge niedriger, die Hänge fielen zu den Tälern sanft ab. Genau vor ihnen standen die schneebedeckten Gipfel. Der Wind wehte noch heftiger, wie mit eisigen Nadeln.
Plötzlich bremste Naomi und winkte ihnen.
»Wir sind da«, sagte sie, als alle ausstiegen. »Am Ende der Welt. Ich glaube nicht, dass es ein besonders schöner Tag dafür ist.«
Sie hatten ein kleines Dorf erreicht, höchstens ein halbes Dutzend Steinhäuser. Auf einem großen Brett war der Name angeschlagen: Coti Chiaveeri.
Naomi zuckte die Achseln. »Das ist die offizielle Bezeichnung, doch ich nenne es lieber ›das Ende der Welt‹.«
Sie ging ein paar Schritte weiter, und Mr Sattersway schloss sich ihr an. Die Häuser lagen jetzt hinter ihnen, und die Straße hörte auf. Wie Naomi gesagt hatte, dies war das Ende der Welt, das Niemandsland, der Anfang vom Nichts. Hinter ihnen das helle Band der Straße, vor ihnen – nichts. Nur weit, weit unter ihnen das Meer.
Mr Sattersway holte tief Luft. »Ein außergewöhnlicher Ort. Man hat das Gefühl, hier könnte alles Mögliche passieren, als ob man hier die seltsamsten Leute…«
Er brach ab, denn vor ihnen, auf einem Stein, saß ein Mann, das Gesicht dem Meer zugewandt. Bis zu diesem Augenblick hatten sie ihn nicht bemerkt, und sein Erscheinen war mit einer Plötzlichkeit geschehen, als habe ihn ein Zauberer hergezaubert. Als sei er geradezu aus dem Boden gewachsen.
»Ich frage mich…«, begann Mr Sattersway.
Da drehte sich der Fremde um, und Mr Sattersway sah sein Gesicht.
»Was, das ist ja Mr Quin! Wie seltsam! Miss Carlton-Smith, ich möchte Sie mit meinem Freund Mr Quin bekannt machen. Er ist ein erstaunlicher Bursche. Wirklich, das sind Sie! Sie tauchen immer wie aus dem Nichts auf…«
Er schwieg, weil er das Gefühl hatte, etwas sehr Wichtiges gesagt zu haben, doch um alles in der Welt hätte er nicht erklären können, was das genau war.
Naomi hatte Mr Quin auf ihre übliche energische Art die Hand geschüttelt. »Wir wollten hier picknicken«, sagte sie. »Aber ich glaube, wir werden schrecklich frieren.«
Mr Sattersway erschauerte. »Vielleicht«, meinte er, »finden wir eine geschützte Stelle?«
»Hier wohl kaum«, erwiderte Naomi. »Trotzdem ist es sehenswert, nicht wahr?«
»Ja, allerdings.« Mr Sattersway wandte sich an Mr Quin. »Miss Carlton-Smith nennt es das Ende der Welt, ein treffender Name, was?«
Mr Quin nickte langsam mehrere Male. »Ja – und auch ein sehr beziehungsvoller Name. Ich glaube, dass man nur einmal im Leben zu einem solchen Ort kommt – von wo es nicht mehr weitergeht.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte Naomi scharf.
Er wandte sich ihr zu. »Nun, gewöhnlich hat man die Wahl, nicht wahr? Rechts oder links. Vor oder zurück. Hier dagegen: Hinter Ihnen die Straße und vor Ihnen – nichts mehr.«
Naomi starrte ihn entgeistert an. Plötzlich schauerte sie zusammen und begann langsam auf die andern zuzugehen. Die beiden Männer blieben an ihrer Seite. Mr Quin sagte in freundlichem Ton:
»Gehört der kleine Wagen Ihnen, Miss Carlton-Smith?«
»Ja.«
»Sie fahren ihn selbst? Ich glaube, man braucht viel Mut dazu, hier in der Gegend. Die Kehren sind ziemlich schwierig. Ein unachtsamer Augenblick – und hinunter, immer weiter hinunter. So etwas geht ganz schnell.«
Sie gesellten sich zu den andern. Mr Sattersway stellte seinen Freund vor. Da spürte er, wie ihn jemand am Ärmel zupfte. Es war Naomi. Sie nahm ihn beiseite und fragte aufgeregt:
»Wer ist der Mann?«
Mr Sattersway blickte sie erstaunt an. »Nun, eigentlich weiß ich es nicht genau. Ich meine, wir kennen uns seit einigen Jahren, und von Zeit zu Zeit begegnen wir uns immer wieder, doch eigentlich…«
Er schwieg. Es war Unsinn, was er da redete, und das junge Mädchen hörte ihm gar nicht zu. Sie stand mit gesenktem Kopf da und ballte die Fäuste.
»Er weiß Bescheid«, sagte sie. »Er weiß Bescheid. Wieso?«
Mr Sattersway fand keine Antwort, sondern blickte sie nur sprachlos an, weil er nicht begriff, warum sie so außer sich war.
»Ich habe Angst«, murmelte sie.
»Vor Mr Quin?«
»Ich habe Angst vor seinen Augen. Sie sehen alles.«
Etwas Kaltes und Feuchtes berührte Mr Sattersways Wange. Er blickte auf.
»Was, es schneit!«, rief er erstaunt.
»Da haben wir uns ja einen schönen Tag für unser Picknick ausgesucht!«, sagte Naomi. Sie hatte sich wieder beruhigt, auch wenn es ihr schwerfiel.
Was sollten sie tun? Die verschiedensten Vorschläge wurden
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