Der Silberbaron
Abendessen, Miss Worthington?”, fragte Mrs. Keene von der Tür, ein zahnlückiges Grinsen im Gesicht.
Emma ließ ihr Buch sinken und blickte zur Tür. Zuerst wunderte sie sich über Mrs. Keenes Dienstbeflissenheit, doch als sie plötzlich den Grund erahnte, durchfuhr sie Zorn und Demütigung. Dieser ekelhafte Wüstling hatte ihre Mahlzeit also doch bezahlt! Dafür hasste sie ihn umso mehr. Nein, schalt sie sich, es steht gar nicht in seiner Macht, mich so zu verstören. Sie empfand lediglich Verachtung für ihn. Dazu hatte sie sich letzte Nacht entschlossen, und diese Entscheidung hatte ihr genug Ruhe geschenkt, um sie gegen Morgengrauen erschöpft einschlafen zu lassen. Außerdem empfand sie es als tröstlich, dass ihr Zusammentreffen mit Richard Du Quesne doch einen Zweck erfüllte: Nun wusste sie Matthews gute Eigenschaften mehr denn je zu schätzen. Wo er wohl steckte? Warum besuchte er sie nicht?
“Hat Lord Du Quesne für mein Essen gestern bezahlt?”, fragte Emma kalt.
“Ei, aber nein, meine Liebe. Sie haben es doch schon gezahlt.”
Das besänftigte Emma ein wenig, dennoch beäugte sie ihre Wirtin misstrauisch. “Hat er Sie angewiesen zu lügen?”
Mrs. Keenes Busen zitterte entrüstet, und sie warf Emma einen beleidigten Blick zu. “Wo denken Sie hin? Ich bin eine ehrliche Haut, jawohl, und deswegen hab ich dem Baron gesagt, dass Sie für Ihr Essen schon bezahlt haben.”
“Ein Shilling war genug?”
“Äh, ja, ja, ganz recht, ein Shilling.”
“Und der Lammeintopf heute Abend, der kostet auch nur einen Shilling?”
“Natürlich …” Bestimmt würde sich der Silberbaron nicht lumpen lassen und eine halbe Guinee für das Abendessen der jungen Dame hinlegen. Er sollte ja recht großzügig sein, was seine Frauen anging …
Da stand Emma auf und ging an Mrs. Keene vorbei zur Tür hinaus. Die Wirtin raffte ihre fleckigen Röcke und folgte ihr den Flur hinunter. Emma klopfte an eine Tür und trat ein. Sie lächelte den Pensionsgast an, ein sehr junges, einfach gekleidetes Mädchen, das ebenso niedergedrückt und hungrig aussah wie sie selbst, bevor sie das köstliche, nahrhafte Mahl und den süßen, teuren Wein genossen hatte – und das ohne Aufpreis, wie es den Anschein hatte!
“Miss Jenner”, sagte sie fröhlich, “Mrs. Keene will mit uns den Speiseplan besprechen. Wollen wir gemeinsam wählen?” Sie ignorierte Mrs. Keenes abwehrende Geste. Wenn der
Silberbaron
ihre kärglichen Mahlzeiten mit seinem, nun, seinem Silber bereichern wollte, würde sie es ihm gestatten, doch brachte sie es nicht übers Herz, allein von dieser Großzügigkeit zu profitieren. Entweder bekamen sie beide Lammeintopf oder keiner. Gewiss würde Mrs. Keene ihm dafür einen exorbitanten Preis berechnen, und das erfreute sie in tiefster Seele. Am liebsten hätte sie jeden streunenden Bettler eingeladen …
Lord Du Quesne sah auf die Liste vor ihm. Mit dem Gänsekiel fuhr er an den aufgeführten Namen entlang und hielt wieder bei Matthew Drury inne.
Er blickte auf und lachte. Unmöglich! Der Mann war ziemlich kleinwüchsig, und sein Haar war nicht braun, sondern rot … außerdem hatte er seines Wissens keine Kinder. Wieder sah er auf das Papier, auf dem er alle Matthews aufgelistet hatte, die in der Nähe wohnten und über den richtigen gesellschaftlichen Rang verfügten. Keiner von ihnen entsprach Mrs. Keenes Beschreibung.
Falls Emmas Freund kein Hirngespinst ihrer Zimmerwirtin war, stand zu vermuten, dass er in der Nähe wohnte. Vielleicht waren sie auch zusammen aus London gekommen. Vielleicht hatte er Reißaus genommen, als er von ihrem Zustand erfuhr, und sie war ihm nachgereist.
Irritiert lehnte er sich zurück und massierte sich den verspannten Nacken. Allmählich wünschte er, er wäre nicht zugegen gewesen, als Emma bei Yvette erschienen war. Seither hatte er keine ruhige Minute mehr gehabt. Nachmittags war er normalerweise nicht an der South Parade anzutreffen, doch er hatte sich von Yvettes erotischen Dankesbezeugungen für das Flitterzeug verführen lassen, das er ihr eine Stunde zuvor auf einem Einkaufsbummel verehrt hatte. Dass er, während Emma geduldig in der Eingangshalle gewartet hatte, überaus aktiv beschäftigt gewesen war, quälte und demütigte ihn nun.
Die Vorstellung, Emma könnte Yvette Gesellschaft leisten, entlockte ihm ein Lächeln. Wenn er nicht da gewesen und Emma engagiert worden wäre, würde es in seinem Stadthaus jetzt zugehen wie im Tollhaus. Neben Emma wirkten die meisten
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