Der Skandal (German Edition)
schon aufgestanden ist und eine Zigarette geraucht oder sonst was gemacht hat – jedenfalls hat er nicht seinen Job getan!
Die Krankenschwester sieht kurz auf die Uhr. »Er ist vor zwei Stunden gegangen.«
Adrenalin schießt in ihren Körper. Das kann doch nicht möglich sein! Was, wenn sie früher gegangen wäre, dann wäre ihr die Schlamperei gar nicht aufgefallen!
»Wieso?«, herrscht Christina sie an.
»Ich weiß nicht, ich hab gedacht, Sie wüssten Bescheid …«
Christina ist ganz sicher, wer dahintersteckt! Sie holt ihr Handy heraus und wählt eine Nummer.
Brewer ist sofort dran.
Ohne Einleitung blafft sie ihm entgegen: »Hast du den Wachdienst in der Klinik abgezogen, Brewer?«
»Andersson?«
»Schick sofort jemanden hierher!«
»Was fällt dir ein, Andersson, so mit mir zu reden! Dir scheint entgangen zu sein, dass der Fall gelöst und abgeschlossen ist. Es gibt keinen Grund mehr, einen Officer …«
»Bullshit!«, schreit sie und merkt, wie ihre Hand sich um das Handy krallt – als wäre es Brewers Hals.
»Ich will jetzt nicht mit dir darüber diskutieren«, sagt er in seiner überheblichen Art.
»Ich auch nicht, Brewer. Also, schick verdammt noch mal einen Officer hierher, sofort!«
Sie geht zurück ins Krankenzimmer.
Jay schläft immer noch. Sie zieht ihre Jacke wieder aus und schiebt zwei Stühle zusammen. Sie darf nicht einschlafen, bis der neue Wachdienst da ist.
Manchmal fühlt sie sich so, als hätte sich eine Wand aus Eis zwischen sie und die Welt geschoben. Und auf diese Wand muss sie immer und immer wieder einschlagen.
Aaron, denkt sie in diesem Augenblick – Aaron hat sie gerettet. Da war diese Wand auf einmal nicht mehr da. Aber jetzt spürt sie sie wieder. Sie könnte Aaron jetzt anrufen. Aber … es wäre nur egoistisch.
Direkt vor seinen Füßen ist der Riss verlaufen. Harpole hat ihn Keith gezeigt, aber der hat nur mit den Schultern gezuckt und gemeint, das wäre kein neuer Riss. Die Straße wäre schon immer schlecht gewesen. »Dünne Teerschicht, Hal. Die hält keinen Frost aus«, hat Keith gesagt und hinzugefügt: »Der Computer hat keine Unregelmäßigkeiten festgestellt, der Druck ist überall normal.«
Harpole konnte ihm nicht widersprechen. Wie hätte er Keith denn auch seine Visionen erklären sollen? Dann aber – wie ein Geschenk des Himmels – ruft ein Journalist aus Milwaukee an. Er ist schon in Green Bay und will den verantwortlichen Ingenieur treffen. Er hat ein paar Fragen, so hat er sich ausgedrückt. Harpole hat daraufhin Frenette informiert. Der hat einen Augenblick lang gezögert, dann aber gemeint, sie hätten ja nichts zu verbergen. Harpole solle offen und freundlich sein und Fragen über Sicherheit und Umweltverträglichkeit für Polycorp Minerals positiv beantworten. »Die Leute sind ganz heiß drauf, was Negatives zu hören, Harpole,« hat er ihm noch gesagt und zum Schluss hinzugefügt, »ich mache Sie persönlich dafür verantwortlich, falls die Mine in einem negativen Licht erscheint.« Harpole hat Ja gesagt …
Jetzt wandert Harpole mit dem Journalisten über das Minengelände. Philipp Springsteen heißt er, er trägt eine Intellektuellenbrille, sie sitzt schief auf einem dicken Nasenverband.
»Was ist Ihnen denn passiert?«, hat Harpole gleich gefragt, als er ihn am Pförtnerhäuschen aus dem Auto steigen sah. »’ne kleine Auseinandersetzung. Als Journalist lebt man gefährlich …« Springsteen hat gelacht, zumindest hat es für Harpole so ausgesehen. Mit einem dicken Verband auf der Nase kann man wohl nicht normal lachen.
Früher, bevor alles passiert ist, da hat Harpole sich öfter von solchen Typen beeindrucken lassen. Weil sie wortgewandt waren und ihm in null Komma nichts jedes Wort im Mund umgedreht haben. Aber inzwischen beeindruckt ihn so schnell nichts mehr, und dieser Springsteen in seiner flinken, nervösen Art ganz bestimmt nicht.
»Glauben Sie eigentlich an Gott?«, fragt Harpole den Journalisten, als er mit ihm über das Gelände geht.
»Aber natürlich. Gott ist der Schöpfer der Welt.« Springsteen lächelt auf eine bestimmte Art, und Harpole weiß sofort, was Springsteen für ein Typ ist.
Sie stapfen übers Minengelände. Der Schnee liegt an einigen Stellen sehr hoch, und an den Straßenrändern ist er zu schmutzigen Wänden zusammengepresst. Ein schwerer grauer Himmel hängt über dem Land. Harpole hält immer wieder Ausschau nach Vögeln. Aber es sind keine da. Die Katzen zeigen sich wieder öfter, und schon
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