Der Sohn der Kellnerin - Heinzelmann, E: Sohn der Kellnerin
Die Sanitäter beeilten sich wegen des starken Regens. Bevor die Bahre endgültig in den Wagen geschoben wurde, glaubte Joey eine Strähne von Hannahs langem blondem Haar erkannt zu haben. Der Krankenwagen führ lärmend und blinkend davon. Jetzt erst sah er die beiden Beamten. Er ging auf sie zu, um zu fragen, was geschehen sei. Siewollten ihm zuerst keine Auskunft geben. Als er aber erklärte, dass er mit dem Paar gut befreundet sei und die junge Frau, die eben abtransportiert wurde, bei ihm arbeitete, erzählten sie ihm vom schrecklichen Unfall. Sein Gesicht nahm bei dieser Schreckensnachricht eine aschfahle Farbe an. Er war wie versteinert. Die Beamtin fragte noch, ob es nahe Angehörige gäbe, die man benachrichtigen konnte. Er schüttelte den Kopf und wie in Trance wandte er sich langsam zum Gehen. Er hörte noch, wie die Beamtin ihm nachrief: “Sie wird ins Universitätsklinikum München gebracht.”
Als er am späten Nachmittag desselben Tages ins Klinikum ging, erfuhr er, dass man Hannah per Kaiserschnitt von einem Sohn entbunden hatte. Der Kleine brachte zwar, wie es bei Achtmonatskindern üblich ist, nur gut 2000 g auf die Waage, schien aber ein zäher kleiner Bursche zu sein. Um Hannah jedoch machten sich die Ärzte mehr Sorgen. Sie war noch nicht über den Berg. Die Ärzte kämpften um ihr Leben. Fünf Tage lag Hannah in der Intensivstation. Täglich rief er an.
Alexander und Claus wurden in dieser Woche, als Hannah mit dem Tod rang und ihn besiegte beigesetzt. Claus in seiner Heimatstadt Nürnberg und Alexander im Kreis vieler Kommilitonen in Garching.
Am Sonntag hatte Hannah es definitiv geschafft. Sie wurde in ein Krankenzimmer verlegt. Am Montag besuchte Joey sie. Er saß seit Morgen an ihrem Bett. Erhatte ja Zeit, das Restaurant hatte montags immer geschlossen.
*
‘Arme kleine Hannah’, dachte er, während er hilflos neben ihrem Bett stand und sah, wie sich das blasse Gesicht schmerzhaft verzog. Sie wirkte so klein und zierlich. Es würde nichts mehr so sein wie früher. Vielleicht half ihr die Zeit, irgendwann einmal über den Schmerz hinwegzukommen. Die Stille im Raum war unerträglich. Sie schien eine Ewigkeit zu dauern. Er musste etwas sagen, er hielt es nicht mehr aus.
“Hannah?”, sagte er leise. Sie schaute ihn an. Hannahs trauriger Blick schmerzte ihn tief im Herzen.
“Dein Sohn, er hat noch keinen Namen. Man hatte mich danach gefragt.”
“Alexander”, sagte sie im Flüsterton, “Alexander.”
7
Täglich bekam Hannah Besuch: der Arzt, der Psychologe, der Physiotherapeut, die Krankenschwestern und immer wieder Joey; einer nach dem anderen gab sich die Klinke in die Hand. Doch ihren Sohn bekam sie bisher nie zu sehen. Sie hatte auch nicht nach ihm gefragt, noch nicht. Als sie erfuhr, wie schlimm es um sie stand, sagte sie zu ihrem Arzt Dr. Walther: “Warum haben sie mich nicht sterben lassen?”
“Hätten Sie das gewollt?”, fragte er zurück, “hätten sie wirklich gewollt, dass ihr Sohn nicht nur seinen Vater verlor, sondern auch seine Mutter?”
Sie schluchzte: “Es ist so schwer. Es ist so unendlich schwer, das alles zu ertragen.”
“Ich weiß”, sagte Dr. Walther und legte seine Hand tröstend auf die ihre, “ich weiß.”
“Kann ich meinen Sohn sehen?”, fragte sie, nachdem sie ihre Stimme wieder gefunden hatte.
Er nickte. “Ich werde dafür sorgen, dass er Ihnen gebracht wird.”
Am frühen Nachmittag ging die Türe auf und Joey erschien. Er war nicht alleine. Auf dem Arm trug er ein kleines Bündel. Hinter Joey entdeckte sie Thomas, der etwas unsicher wirkte. Wahrscheinlich fürchtete er sich vor der ersten Begegnung mit Hannah und außerdemwaren Krankenhäuser mit ihren typischen Krankenhausgerüchen für ihn ein Graus.
Joey lächelte, kam zu Hannahs Bett und legte ihr das Bündel in die Arme. Da lag der Winzling mit dem schwarzen dichten Haar und schlief friedlich. Hannahs bis anhin färb- und ausdrucksloses Gesicht veränderte sich. Liebevoll schaute sie auf ihren Sohn. Joey und Thomas standen gerührt vor ihrem Bett und trauten sich nicht, etwas zu sagen, aus Angst, sie könnten diese intime Atmosphäre zwischen Mutter und Kind stören. Als Hannah aufschaute, hatte sie Tränen in den Augen: “Er ist wunderschön.”
“Ja”, sagten beide wie im Chor. Dann streckte Thomas ihr einen Blumenstrauß hin und murmelte verlegen, “damit das Zimmer etwas Farbe bekommt.” Sie lächelte. Es war so schön, sie wieder lächeln zu sehen. Beide küssten
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