Der Sohn des Sehers 03 - Renegat
von Fleckkiefer, Schwarzbuche und Graueiche, und Mahuk verschwand gelegentlich einige Schritte im Dickicht, um mit Händen voller Pilze oder roter Beeren zurückzukehren. Aber Nokke riet ihm bald davon ab: »Verzeih, ehrwürdiger Raschtar, aber wir sind nicht alleine. Und es wäre nun besser, in der Schar zu bleiben.«
Auch Awin hatte längst das Gefühl, beobachtet zu werden. Er sah niemanden, er hörte nichts außer dem Tritt der Männer und Pferde auf dem bemoosten Boden, aber er spürte, dass dort hinter den Bäumen Menschen waren. Mahuk brummte etwas Unverständliches, aber er folgte Nokkes Rat.
Stunde um Stunde marschierten sie weiter, immer nach Norden, und das Gefühl, beobachtet zu werden, wurde irgendwann zur Gewissheit, obwohl Awin im tiefen Grün niemanden entdecken konnte. Er bemerkte, wie unruhig die Hakul wurden. Immer wieder zuckte eine Hand zum Bogen, immer wieder wies ein Krieger einen anderen darauf hin, dass sich irgendwo zwischen den Baumstämmen etwas bewegt hatte, aber stets sah dort kein anderer etwas. Mit Jeswin schärfte er den Kriegern ein, dass sie nur ja nichts Unüberlegtes tun sollten. »Dass mir keiner von euch einen Pfeil auf einen Vogel, ein Reh oder einen Busch verschwendet«, mahnte der Yaman des Roten Wassers, und seine Krieger nickten angespannt.
»Es wäre auch unklug, auf einen der Unsichtbaren zu schießen, selbst wenn wir sie sehen könnten«, erklärte Praane ruhig. »Sie beobachten uns, aber es ist möglich, dass sie sich mit dem einen Mann zufriedengeben und uns ziehen lassen. Wir sollten auf keinen Fall einen Kampf mit ihnen beginnen, denn sie könnten uns sicher mit hundertfacher Übermacht angreifen, wenn sie wollten.«
Am Abend rasteten sie auf einer kleinen, abschüssigen Lichtung. Limdin erkletterte eine nahe Eiche, kehrte aber enttäuscht zurück. »Ich sehe Bäume, so weit das Auge reicht. Nur im Nordwesten ragen einige Felsen über die Wipfel, aber ein Ende des Waldes konnte ich auch dort nicht sehen.«
»Diese Felsen müssen wir meiden. Riesenfelsen werden sie genannt, denn die Legende sagt, dass einst ein Riese sie dort auf einen Hügel legte, um sich daraufzustellen und endlich einmal den ganzen Wald überblicken zu können. Viel wichtiger aber ist, dass dort die Behüterin in einer Grotte haust«, meinte Praane.
Die Behüterin? Awin fragte sich wieder, was für ein Wesen das sein mochte.
»Ist es ihm gelungen? Dem Riesen, meine ich, ist es ihm gelungen, diesen ganzen verfluchten Wald auf einmal zu sehen?«, fragte Tuge. »Oder, besser gefragt, wie lange dauert es noch, bis diese elenden Bäume endlich hinter uns liegen?«
»Wenn es gut geht, vier Tage«, meinte Praane, »und nein, es ist dem Riesen nicht gelungen. Und deshalb kehrte er um und ging zurück in die Sümpfe, wie es heißt.«
Awin bemerkte, dass Merege Praanes Ausführungen mit besonderer Aufmerksamkeit lauschte. Wenn stimmte, was sie ihm einmal erzählt hatte, war Senis, die Ahnmutter der Kariwa, zur Hälfte eine Riesin. Das glaubte er immer noch nicht so recht, da er die kleine, bucklige Gestalt der uralten Senis vor
Augen hatte. Ob sie das Todeskraut, das sie am Schlangenmeer suchte, inzwischen gefunden hatte? Der Gedanke an die Kariwa gab ihm einen Stich. Er war ihr auf seinen Reisen des Geistes begegnet, und wie es aussah, würde er nie wieder auf eine solche Reise gehen können. Wie gerne hätte er seinem Sger den Weg durch dieses undurchdringliche Dickicht gewiesen, aber er war blind, und er konnte Senis nicht warnen vor dem, was Eri vorhatte.
Der nächste Tag glich dem vorigen, nur dass ein kalter Regen über dem dichten Blätterdach niederging. Er fügte den vielen fremden Tönen des Waldes einige neue hinzu. Das leise Rauschen und Tropfen des Wassers schien sie einlullen zu wollen, aber die Hakul fielen nicht darauf herein. Sie blieben wachsam, starrten in das dichte Unterholz und warteten darauf, dass sich der Feind, den sie dort wussten, endlich einmal zeigen und seine Absichten enthüllen würde. Die Unsichtbaren taten ihnen den Gefallen jedoch nicht, und so blieb es dabei, dass Awin bei jedem Rascheln, jedem Knarren oder Knacken von Holz zusammenzuckte und wie von selbst nach seinem Schwert griff. So ging es bis zum Abend. Da der Regen anhielt, schlugen sie ihr Lager am Rande einer Lichtung unter einigen Buchen auf. Männer und Pferde waren müde und die Stimmung angespannt. Dann fuhr Wela Ore Praane an, weil der sich nicht an der Suche nach trockenem Feuerholz
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