Der Sohn des Sehers 03 - Renegat
gleißend hell, dass es in Awins Augen schmerzte, und dennoch fiel es ihm schwer, den Blick von diesem Wunderwerk zu wenden. Es war groß, im Durchmesser über Mannslänge, und aus einer runden Scheibe in der Mitte strebten zwölf unregelmäßig geformte Strahlen nach allen Seiten. Einer, der unterste, war kürzer als die anderen. Awin hob schützend die Hand vor die Augen und trat noch näher heran. Ja, ohne Zweifel, hier hatte Etys einst den Heolin gestohlen, hatte es irgendwie vermocht, ein Stück dieses gleißenden Strahls abzubrechen. Er hatte es geschwächt. Es war schwer vorstellbar, dass es einst noch stärker gewesen war. Awin fühlte die sengende Hitze, die vom Siegel ausging. Es war ein Wunder, dass Etys sich dabei nur die Hand verbrannt hatte. Als er sich endlich doch abwandte, konnte er kaum etwas sehen, denn das flammende Siegel stand ihm immer noch vor Augen.
»Komm, ich zeige dir die Mauer«, sagte Merege. Awin folgte ihr und den Alten, die ihren Posten dort oben einnehmen sollten. In die Flanke des Berges war eine steile Treppe hineingeschlagen. Sie schien kein Ende zu nehmen, aber irgendwann waren sie dann doch oben angekommen. Awin betrat den Wehrgang. Er war breit, breiter als die Straße, die sie hier heraufgeführt hatte. Awin fiel zuerst auf, dass die Brustwehr auf der Talseite nicht sehr hoch war.
»Es hat nie jemand damit gerechnet, dass wir das Tor einmal gegen Menschen verteidigen müssen«, erklärte Merege, die seine Gedanken erraten hatte. Er hatte erwartet, hinter der
Mauer ein Tal oder eine Schlucht vorzufinden, doch verblüfft stellte er fest, dass dem nicht so war. Auf der Bergseite waren schmale Bogenscharten in den Fels gebrochen. Awin trat an eine heran und blickte in einen düsteren Stollen. Er war riesig, so hoch wie die Mauer und ebenso breit. Ein unbestimmbares, rötliches Leuchten schien von den Felswänden auszugehen. Zu Awins Überraschung stieg der Stollen an, er schnitt in gerader Verlängerung der Rampe in die Berge hinein.
»Es war ursprünglich eine Schlucht«, erklärte Merege, »doch die Riesen haben die Felsen zusammengezwungen, um den Daimonen den Himmel zu versperren. Und dort hinten, siehst du die schwarzen Wolken, die sich am Ende des Stollens zusammenballen? Dahinter beginnt das Reich der Skrole, das Daimonental.«
Gebannt starrte Awin auf das Gewölk. Es schien ihm, als bewege sich dort etwas unter diesen Wolken. Er fragte Merege.
Sie schüttelte den Kopf. »Die Daimonen fürchten diesen Gang wegen des Siegels, Awin. Selbst in den Stollen können sie nicht, ohne große Schmerzen zu erleiden. Manchmal versuchen sie es dennoch. Meist geschieht es im Winter, wenn das Siegel den Sonnenwagen nur selten zu sehen bekommt. Dann müssen die Wächter ihre Kraft aufbieten, um es zu stärken. Es ist furchtbar, das Geheul der Daimonen und Skrole zu hören, wenn sie gegen das Tor drängen, obwohl das Siegel sie peinigt.«
Die schwarze Wolke beunruhigte Awin und erfüllte ihn mit dunklen Vorahnungen. Er wandte sich ab und holte tief Luft. Sie schmeckte nach Schwefel.
Der Staub des Kramar hing wie feiner Dunst in der Luft, die Aussicht war dennoch beeindruckend. Da unten glitzerte der See, an seinem Ufer lag die Stadt Narwa hinter einem Hügel.
Awin konnte - scheinbar winzig klein - den großen Turm sehen. Berge und Hügel unterteilten das weite Land, und dann sah Awin fern im Westen, wo die Luft wohl noch frei von Asche war, Rauch aufsteigen. »Was ist das?«, fragte er, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass so weit entfernt die Hakul wüteten.
»Das sind der Lifar und der Belenar, die beiden anderen Feuerberge, von denen ich dir erzählt habe. Auch sie scheinen zum Leben erwacht, wie der Kramar.«
Awin wandte sich nach Osten. Die Berghänge verstellten ihm die Sicht, aber er konnte die dunkle Rauchwolke sehen, die dort senkrecht in den Himmel stieg. Und immer noch rieselte feine Asche herab. Sie lag auf dem Wehrgang, den Bergen und unten auf der Rampe. Awin war tief beeindruckt. Dieses Land war voller Wunder, und auf dem größten dieser Wunder stand er nun.
»Siehst du das, dort?«, fragte eine Stimme. Es war einer der Alten, der mit einem anderen sprach. Awin folgte ihrem Blick. Am See war eine gewaltige Nebelbank aufgezogen.
»Nebel? Um die Jahreszeit?«, fragte der Alte besorgt.
»Dauwe«, murmelte Awin bestürzt.
Merege sah ihn fragend an.
»Dauwe, er hat Nebel über die Reihen der Hakul gelegt.«
»Aber wozu?«, fragte Merege. »Warum sollte
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