Der Sohn des Sehers 03 - Renegat
und setzte sein Pferd in Galopp. Die anderen folgten ihm. Awin war erleichtert, dass er Isparra nicht mehr hinter sich ertragen musste, und sein Pferd schien ähnlich zu fühlen. Es sprang, vergnügt schnaubend wie ein Füllen, in weiten Sätzen über die staubige Ebene. Awin schmiegte sich an den Hals des Tieres und ließ es laufen. Und hinter ihm jagte sein Sger mit ihm um die Wette. Seit fast dreißig Tagen waren sie nun schon unterwegs. Immer hatten sie mit ihren Kräften und denen ihrer Pferde hausgehalten, doch jetzt ließen sie die Zügel schießen und jagten mit dem Wind um die Wette, einem Wind, der nicht Isparra hieß.
Irgendwann wurde Awins Ross von selbst langsamer. Es hatte
sich ausgetobt. Nach und nach schloss der Sger auf. Mahuk kam als Letzter, und er fluchte über den Daimon, der seinem Pferd in den Leib gefahren war.
Tuge rief ihm zu: »Immerhin, ehrwürdiger Raschtar, du hast dich nicht abwerfen lassen. Noch zwei oder drei Monde im Sattel, und du darfst dich vielleicht wirklich Reiter nennen.«
Selbst Mahuk lachte über diesen Scherz. Die Stimmung im Sger war gelöst. Sie ließen ihre Pferde wieder im Schritt gehen. Es war immer noch nicht dunkel, und solange die Sonne noch zu sehen war, wollten sie weiterziehen. Awin war fest entschlossen, schneller an der Brücke zu sein als die Windskrole, die sie erst vom Weg abgebracht und dann einfach im Stich gelassen hatte.
»Wir könnten auch die Nacht durchreiten«, schlug Tuge sogar vor. »Der Mond ist fast voll, und wir werden genug Licht haben.«
»Genug Licht für den Weg, aber vielleicht nicht für die Gefahren, die hier auf uns lauern«, antwortete Awin. »Wenn wir erst einmal von dieser Höhe herunter sind, sind wir im Land des Feindes. Es mag dort unten Flüchtlinge geben, oder versprengte Krieger, die uns im Dunkeln auflauern. Sie werden sich nicht damit aufhalten, uns erst zu fragen, was wir im Grünland wollen. Wir sollten also nicht leichtsinnig werden.«
»Du kannst einem aber auch jeden Spaß verderben, Yaman«, meinte Tuge mit einem Augenzwinkern. »So werden wir nie vor dieser Alfskrole am Fluss sein.«
»Abwarten, Tuge. Aber jetzt nimm mit Wela für eine Weile die Spitze, ich habe mit Merege zu reden.«
»Wie du es wünschst, Yaman Awin«, erwiderte Tuge und winkte Wela an seine Seite.
Awin hielt sein Pferd an und reihte sich am Ende des Zuges neben Merege und Karak wieder ein.
»Was gibt es, Awin?«, fragte die Kariwa.
Awin musterte sie. Sie wirkte entspannt, und ihre bleichen Wangen hatten sogar etwas Farbe bekommen. Die Jagd zu Pferde schien ihr Spaß gemacht zu haben, falls es in ihrem Leben überhaupt Platz für so etwas wie Spaß gab, schränkte Awin in Gedanken ein. Aber es war unbestreitbar so, dass sie seit einigen Tagen deutlich weniger schwermütig und ernst war als zuvor.
»Wir kommen heute in das Land der Akradhai, Merege. Weißt du, wie weit es noch von hier bis in deine Heimat ist?«
Merege deutete nach Norden. »Siehst du das Glitzern von Wasser, dort neben dem endlosen Wald? Dort beginnt das Nebelland mit seinen Seen, Mooren und Sümpfen. Es erstreckt sich viele Tage nach Norden und noch mehr nach Westen. Es leben Menschen dort, aber es sind wenige, sie sind scheu, und sie behandeln jeden Fremden als Feind. Wir nennen sie die Nebelmenschen, denn dieses Land ist an vielen Tagen von Nebeln verhüllt. Die Kariwa haben es vor langer Zeit aufgegeben, einen Pfad durch dieses Land zu suchen. Könnten wir auf geradem Weg reisen, so läge vielleicht noch die Hälfte der Strecke vor uns. Der Weg um diese Einöde herum ist jedoch viel länger.«
Awin blickte über die im Dämmerlicht schimmernden Wasserflächen. »Ich hätte nicht gedacht, dass es noch so weit ist. Also werden wir erst nach Mittsommer im Schneeland eintreffen?« Er überlegte eine Weile, dann fuhr er fort: »Das ist eigentlich sogar gut, denn je länger der Weg ist, desto eher besteht die Möglichkeit, Eri noch rechtzeitig einzuholen. Er hat doch schon jetzt nur noch zwei oder drei Tage Vorsprung.«
Merege blickte ihn ernst an und erwiderte: »Er ist aber über die Brücke gezogen, und ich weiß nicht, ob uns dieser Weg
offen steht. Auf der anderen Seite des Flusses gibt es gute Wege, denn dort liegt das Kornland der Akradhai, das ihr ›Bernsteinland‹ nennt. Auf dieser Seite sieht es hingegen ganz anders aus. Wir müssten erst durch diesen Wald, und was danach kommt, kann ich nicht sagen. Ich weiß auch immer noch nicht, wie du Eri aufhalten
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