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Der Sommer, als ich schön wurde

Der Sommer, als ich schön wurde

Titel: Der Sommer, als ich schön wurde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Han
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sich bemüht. Auf seine Weise hatte er sich bemüht. Er hatte sogar ein gebrauchtes Klavier erstanden und noch ins Esszimmer geklemmt, extra für mich. Damit ich auch üben konnte, wenn ich bei ihm übernachtete, sagte er. Aber in Wirklichkeit habe ich das kaum mal gemacht – das Klavier war verstimmt, und ich brachte es nie übers Herz, es ihm zu sagen.
    Das war auch ein Grund, weswegen ich so sehnlich auf den Sommer wartete. Im Sommer musste ich nicht in die traurige kleine Wohnung meines Vaters. Es war aber nicht so, als vermisste ich ihn nicht, im Gegenteil. Ich vermisste ihn wirklich sehr. Aber diese Wohnung war einfach deprimierend. Ich wünschte, ich könnte in unserem Haus mit ihm zusammen sein. Unserem richtigen Haus. Ich wünschte, alles wäre noch wie früher. Und da wir die längste Zeit des Sommers mit meiner Mutter verbrachten, machte er mit Steven und mir eine Reise, wenn wir zurückkamen. Meist ging es nach Florida zu unserer Großmutter. Granny nannten wir sie. Aber auch das war deprimierend – Granny versuchte die ganze Zeit, Dad dazu zu überreden, wieder zu unserer Mutter zurückzukehren. Sie betete sie regelrecht an. »Hast du in letzter Zeit mit Laurel gesprochen?«, fragte sie immer wieder, noch lange nach der Scheidung.
    Ich fand es furchtbar, wie sie ihm deswegen zusetzte. Es war einfach demütigend für ihn, denn er hatte es sowieso nicht in der Hand. Schließlich hatte meine Mutter sich von ihm getrennt. Sie hatte auf die Scheidung gedrängt. So viel wusste ich mit Sicherheit. Mein Vater wäre völlig zufrieden gewesen, wenn alles immer so weitergegangen wäre, er hätte gern weiter in unserem zweistöckigen blauen Haus gelebt, mit Claude und mit all seinen Büchern.
    Mein Dad hat mir einmal erzählt, was Winston Churchill über Russland gesagt hat: Es sei ein Rätsel, umhüllt von einem Mysterium, das in einem Geheimnis verborgen sei. Dad behauptete, Churchill müsse meine Mutter gemeint haben. Das war noch vor der Scheidung, und Dad klang halb verbittert, halb respektvoll. Denn selbst wenn er meine Mutter hasste, bewunderte er sie doch.
    Ich glaube, er wäre immer bei ihr geblieben und hätte versucht, hinter ihr Geheimnis zu kommen. Er war jemand, der gern Rätsel löste, ein Mensch, der Theoreme und Theorien liebte. Für jedes X gab es eine Entsprechung. Es konnte nicht einfach nur X sein.
    Ich selbst fand meine Mutter nicht geheimnisvoll. Sie war meine Mutter, fertig. Immer vernünftig, immer selbstsicher. Für mich war sie nicht geheimnisvoller als ein Glas Wasser. Sie wusste, was sie wollte, und sie wusste, was sie nicht wollte. Und das war: mit meinem Vater verheiratet zu sein. Ich weiß nicht, ob sie aufgehört hat, ihn zu lieben, oder ob sie es nie getan hat. Ihn geliebt, meine ich.
    Wenn wir bei Granny waren, brach meine Mutter zu einer ihrer eigenen Reisen auf, die sie in entlegene Gegenden führten, nach Ungarn oder Alaska. Sie reiste immer allein. Sie machte Fotos, aber ich bat nie darum, sie ansehen zu dürfen, und sie fragte nie, ob ich sie sehen wollte.

13
    Ich saß auf einem Gartenstuhl, aß einen Toast und las in einer Zeitschrift, als meine Mutter zu mir herauskam. Sie hatte diese ernste Miene aufgesetzt, diesen fest entschlossenen Blick, den sie immer hatte, wenn sie eines ihrer Mutter-Tochter-Gespräche plante. Vor diesen Gesprächen graute es mir genauso wie vor meiner Periode.
    »Was machst du heute?«, fragte sie beiläufig.
    Ich stopfte mir den Rest von meinem Toast in den Mund. »Das hier?«
    »Vielleicht könntest du dich mal an die Lektüreliste für deinen Englisch-LK machen«, sagte sie. Mit den Fingern wischte sie mir ein paar Krümel vom Kinn.
    »Ja, das hatte ich sowieso vor«, sagte ich, auch wenn das nicht stimmte.
    Meine Mutter räusperte sich. »Nimmt Conrad eigentlich Drogen?«, fragte sie mich.
    »Was?«
    »Nimmt Conrad Drogen?«
    Ich verschluckte mich fast. »Nein! Und überhaupt – wieso fragst du mich das? Conrad redet nicht mit mir. Frag doch Steven.«
    »Das habe ich bereits. Aber er weiß nichts. Und anlügen würde er mich nicht«, sagte sie. Dabei sah sie mich aus zusammengekniffenen Augen an.
    »Ich doch auch nicht!«
    Meine Mutter seufzte. »Ich weiß. Aber Beck macht sich Sorgen. Er ist in letzter Zeit so anders. Er hat mit Football aufgehört …«
    »… und ich mit dem Tanzen«, sagte ich und verdrehte die Augen. »Trotzdem laufe ich nicht mit der Crack-Pfeife durch die Gegend.«
    Sie verzog den Mund. »Versprichst du mir, dass du

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