Der Sommer der Gaukler
miteinander. Bis der Riese schließlich gähnte, sich auf seine Vorderpfoten sinken ließ und gemächlich trollte. Bald hatte ihn die Dunkelheit des Bergwaldes verschluckt.
Babett überquerte die Lichtung. Wenig später hatte sie die verlassene Kapelle erreicht, schob die knarzende Tür zurück und ging einige Schritte in das Innere des winzigen Raumes.
Ein Geräusch ließ sie herumfahren. Im Türrahmen, von Mondlicht umrankt, stand eine reglose Gestalt.
»Vester...?«Er streckte die Arme aus. Sie stürzte auf ihn zu, umschlang ihn mit ihren Armen und küsste jede Stelle seines Gesichts. »Dass du bloß lebst, Vester. Dass du bloß lebst.«
Er lachte kehlig.
»Den Vester kriegt keins so schnell nit los.«
Sie gab ihm eine zärtliche Ohrfeige.
»Aff, du.«
Eine schmale Mauerscharte warf graues Mondlicht in die Kapelle. Neben dem Altar hatten Hirten ein Lager aufgeschüttet. Babett und Vester tasteten sich voran und ließen sich auf dem Stroh nieder. Eine Weile lagen sie schweigend nebeneinander.
»Sag, Vester – ist wirklich alles hin droben?«
»Alles nit. Aber wir müssen einen neuen Stollen anschlagen.« »Gut«, sagte Babett. »Gut.«
Vester wirkte auf einmal niedergeschlagen.
»Wann er was gibt...«
»Er wird, Vester.«
Wieder lauschten sie den Geräuschen des Waldes. Plötzlich presste er sie an sich und schluchzte: »Was hab ich geträumt, was ich mit dir haben werd, Babett. Und jetzt ist alles hin und verloren.«
Sie streichelte seine Wange. »Vester...«
»Ein kleines Gut vom Walserberg hab ich mir schon ausgeschaut gehabt... Nichts Großes, nichts zum Reichwerden... Aber... mit dir wär ich der Reichste gewesen, dens hat im Land.«
»Es wird was anders hergehen, Vester. Gehn wir ins Tirolische.«
Er zog den Rotz hoch.
»Grad da werden sie sich um uns reißen«, sagte er entmutigt. »Und meine Godin, die hätt auch einen Vettern in Wien, und der –«
»Und der?«
»Der hat ein Ringelspiel, glaub ich. Oder sowas.« »Ringelspiel«, wiederholte Vester, plötzlich unwirsch. »Jaja.Und ich hab einen Vettern im Grödnertal. Wenn er nit auch schon verreckt ist, dann krebst er genauso vor sich hin.«
Sie schmiegte sich an ihn.
»Vester, bist ja ganz kalt. Lass dich wärmen.«
Er stöhnte leise.
»Es wird, Vester. Es wird.«
Er schwieg.
»Sag, Vester – ?«
»Hm?«
»Willst es denn überhaupt?«
»Was?«
»Dass es wird?«
Er drehte den Kopf zur Seite. »Als wann danach noch eins fragt.«
»Ich frag, Vester.« Ihr Blick glühte durch die Dunkelheit. »Sag, dass dus willst.«
»Ich –«
»Willst dus«, drängte sie.
Er sah sie forschend an.
»Und du?«
Sie lachte leise. »Du fragst vielleicht blöd. Ich wills, freilich. – Sag du jetzt!«
Er seufzte wieder.
»Woll...« brummte er dann.
Mit einem Schlag wurde ihnen bewusst: Sie hatten sich gerade versprochen.
Sie klammerten sich stöhnend, wie verlorene Kinder, aneinander. Sie löste sich hastig von ihm, zog ihr Kopftuch ab und löste ihren Haarknoten.
Als sie ihn umarmte und seine rissigen Lippen auf ihrer Haut fühlte, ertasteten ihre Fingerkuppen Narben auf seinem nackten Rücken.
19
W ar er ein seniler Narr? Warum tat er das? Freiherr Viktor von Playen hatte sich diese Frage nie wirklich beantworten können: Was ihn, den bald Siebzigjährigen, antrieb, sich gegen die Mächtigen in Politik und Kirche zu stellen, indem er sein Schloss für regelmäßige Treffen der bairischen Illuminaten zur Verfügung stellte?
Eines Bundes, der für die Aufhebung von Leibeigenschaft und Frondiensten plädierte, für die Begrenzung der Macht der Kirche, für eine Gesellschaft, in der sich jeder Mensch nach seinen Möglichkeiten frei entfalten können sollte.
Es hatte ihm nie an etwas gefehlt. Er war behütet aufgewachsen; umringt von dienstbaren Geistern, hatte es mit seinem Studium in Ingolstadt bestens getroffen, und auch danach erlaubte ihm sein Erbe ein sorgenfreies Leben. Warum ging er dieses Risiko ein? Die machtbewussten Klerikalen im Bund mit den fanatischen Rosenkreuzlern hatten am Hof des Kurfürsten längst wieder an Einfluss gewonnen. Sie überzeugten ihn, dass die Illuminaten eine Verschwörung gegen ihn planten.
Warum konnte der Baron das gefährliche Spiel nicht lassen, wie es bereits einige seiner Bundesbrüder getan hatten?
An manchen Tagen trat es klar vor seine Augen: Die Antwort war, dass sich etwas in ihm gegen die Gewissheit des Sterbens sträubte. Nicht nur seines eigenen, sondern auch das einer Welt, die
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