Der Spion und die Lady
könnte, empörte sie. Er mußte ganz anders sein als sein Bruder.
Der Marquis kniete neben dem Toten nieder und drehte ihn um. Dann atmete er tief aus, senkte den Kopf und schlug eine Hand vors Gesicht.
Desdemonas Empörung verrauchte und machte tiefem Mitgefühl Platz. Auch sie hatte in dieses blutverschmierte, zerschmetterte Gesicht geblickt und wußte, daß es in künftigen Alpträumen wieder auftauchen würde.
Sie trat neben den Marquis und legte sanft eine Hand auf seine Schulter. »Es tut mir leid, Wolverhampton. Ist das Ihr Bruder?«
»Nein.« Er hob den Kopf und rang sichtbar um Haltung. »Aber einen Moment lang nahm ich an, er könnte es sein. Ich war… erleichtert, als ich feststellte, daß ich mich geirrt hatte.«
Also hatte der Marquis seinen Bruder nicht nur aus familiärer Loyalität verteidigt, sondern aus Liebe. Sie fragte sich, womit sich der verschwundene Lord Robert diese Zuneigung verdient hatte. »Sie haben Ihren Bruder eines Überfalls für fähig gehalten?«
Giles sah sie gereizt an. »Selbstverständlich nicht.
Die Vorstellung wäre absurd.« Er berührte den Ärmel des Räubers. »Aber ich wette, daß dieser Rock Robin gehört. Der Schnitt ist französisch, nicht englisch. Ich frage mich, warum dieser Kerl ihn trägt.«
»Vielleicht hat ihn Ihr Bruder diesem Schurken verkauft?«
»Ich glaube nicht, daß ich bereit bin, an Zufälle zu glauben.« Mit grimmiger Miene begann der Marquis die Taschen des Toten zu durchsuchen.
Er fand ein paar Münzen, ein Taschenmesser, eine goldene Uhr, aber nichts, was auf den Namen des Räubers hinwies.
Desdemona runzelte die Stirn. »Lassen Sie mich die Uhr doch einmal sehen.« Sie öffnete den Deckel mit einem Fingernagel. Auf der Innenseite war der Name »Maximus Benedict Collins«
graviert. Wortlos zeigte sie die Gravur Giles.
Er pfiff leise durch die Zähne. »Sie hat also Ihrem Bruder gehört?«
Sie nickte. »Er hat sie zu seinem achtzehnten Geburtstag geschenkt bekommen, glaube ich.
Nach seinem Tod muß sie an Maxima
übergegangen sein.« Sie sah den Marquis beunruhigt an. »Offensichtlich sind diese Männer Ihrem Bruder und meiner Nichte begegnet. Sie nehmen nicht an, daß… daß sie sie ausgeraubt und… getötet haben könnten?«
Als der Marquis aufstand, waren seine schieferblauen Augen fast schwarz. »Das bezweifle ich. Es bestand keine Veranlassung, zwei unbewaffnete Leute zu töten.
Aber anscheinend wurden sie überfallen, und dieser Rock wie auch die Uhr gehören zur Beute.«
Desdemonas Hand schloß sich um die Uhr ihres toten Bruders. »Verbrecherische Menschen brauchen keine Veranlassung zum Mord. Und zwei Menschen zu erschießen und ihre Leichen irgendwo zu verstecken, würde nicht allzu viele Spuren hinterlassen.«
Der Marquis blickte finster. Das alles wußte er genauso gut wie sie, hätte es aber vorgezogen, daß die Worte nicht ausgesprochen worden wären. »Möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich.
Robin ist sehr gewandt im Überwinden von Schwierigkeiten. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß er so leicht umzubringen ist.
Oder daß er zuläßt, daß einer jungen Frau in seiner Begleitung ein Leid geschieht.«
»Lord Robert verfügt also über beträchtliche Erfahrung, sich aus heiklen Situationen herauszuwinden. Ehrenwerte Männer brauchen derartige Fähigkeiten nicht«, stellte Desdemona spitz fest.
»Falls Ihre lockere Nichte sicher nach London gelangt, dann hat sie das ausschließlich dem Schutz meines Bruders zu verdanken, da ihre Vernunft offensichtlich ebensowenig entwickelt ist wie ihre Moral«, entgegnete der Marquis giftig.
»Welches wohlerzogene Mädchen würde auch nur im Traum daran denken, ganz England zu Fuß zu durchqueren? Allerdings hatte sie zumindest soviel Verstand, sich einen Mann zu angeln, der sie nach London begleitet.«
»Sie hat ihn sich nicht ›geangelt‹. Sie wurde gezwungen!« fauchte Desdemona. »Und Sie müssen sich gleichfalls Sorgen über Lord Roberts Verhalten machen, sonst wären Sie mir nicht gefolgt.«
»Um Sie mache ich mir Sorgen, nicht um meinen Bruder.« Der Marquis wurde immer lauter.
»Nachdem Sie aus meiner Bibliothek gestürmt waren, kam ich zu der Erkenntnis, daß ich Robin vor dem stursten, rachedurstigsten Frauenzimmer schützen muß, dem ich in meinem ganzen Leben begegnet bin. Es liegt doch auf der Hand, daß Sie Ihr Urteil bereits gefällt haben, obwohl nicht die geringsten Beweise vorliegen.«
»Wen meinen Sie mit dem ›stursten,
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