Der Stein der Könige 3 - Die Pforten der Dunkelheit
ihm Vernunft einreden konnte, kletterte Shadamehr auch schon die Strickleiter hinunter.
Genauer gesagt, er fiel. Er schaffte ein paar Fuß, und dann kam eine Welle aus dem Nichts, klatschte gegen den Rumpf, durchnässte ihn und ließ ihn das Gleichgewicht verlieren. Er taumelte rückwärts in die Arme der Seeleute, welche die Köpfe schüttelten, die Augen verdrehten und ihn auf eine Ruderbank warfen. Dann machten sie sich daran, das Boot zum Schiff des Kapitäns zu rudern.
»Musst du dich so zum Narren machen?«, wollte Alise wissen.
»Ich dachte, ich könnte sie mit meinen Seebeinen beeindrucken«, meinte Shadamehr kläglich.
»Beeindruckt hast du sie, das ist mal sicher«, sagte sie, und dann fragte sie mit veränderter Stimme: »Was macht Kal-Gah denn dort?«
Kal-Gah hatte an der Reling gestanden und ihnen nachgeschaut. Jetzt winkte er noch einmal, dann drehte er sich um und fing an, Befehle zu geben. Seeleute kletterten in die Takelage und begannen, die Segel zu hissen.
»Er setzt sich ab«, sagte Shadamehr.
Der große Kapitän der Kapitäne zählte etwa fünfzig Jahre. Sie war groß und kräftig, hatte eisengraues Haar, das sie in einem langen Zopf trug, und sah aus, als wäre sie ein Teil des Meeres, auf dem sie ihr ganzes Leben verbracht hatte. Ihre Augen hatten die Farbe der Wellen an einem grauen Wintermorgen. Ihr Gang glich dem Rollen der Wogen, welche sich am Strand brachen. Um den Hals trug sie eine Kette aus Muscheln und Haifischzähnen, und an ihren Ohrläppchen hingen goldene Ringe. Sie war gekleidet wie die meisten anderen Orkseeleute, in lederne Kniehosen und ein weites langärmliges Hemd, das sich im Wind wie ein Segel blähte. Sie war barfuß, und ihre Arme waren nackt. Was von ihrer Haut sichtbar war, war mit Tätowierungen von Delfinen und Möwen, Walen und Seesternen bedeckt.
Die Überfahrt in dem kleinen Boot durch die Wellentäler und über die Wellenberge hatte die Elfenmägen in Unruhe versetzt.
Sowohl Damra als auch Griffith waren wieder seekrank geworden und konnten, als sie aus dem Landrattenstuhl kamen, kaum aufrecht stehen.
»Zeit für meinen bemerkenswerten Charme«, sagte Shadamehr und rieb sich die Hände.
»Bisher hat der ja auch so gut funktioniert«, meinte Alise trocken. »Soweit ich mich erinnere, bist du in den letzten Wochen geschlagen, angestochen und über Bord geworfen worden.«
»Ich bin über Bord
gefallen«,
betonte Shadamehr würdevoll.
»Ihr könntet versuchen herauszufinden, ob wir Gäste oder Gefangene sind«, schlug Griffith vor. Er war immer noch bleich, aber inzwischen hatte er sich wieder ein wenig gefasst, weil er sich auf einem größeren Schiff befand.
»Ihr wollt die Antwort vielleicht überhaupt nicht wissen«, sagte Shadamehr. »Still, hier kommt sie.«
Der Kapitän der Kapitäne ging übers Deck und näherte sich ihnen ohne weitere Umstände. Sie überragte sie um anderthalb Köpfe und starrte auf sie nieder. Ihre Miene war streng, und das Glitzern in ihren Augen trug ebenfalls nicht dazu bei, dass ihre Gäste sich wohler fühlten.
»Baron Shadamehr zu Euren Diensten«, sagte er und verbeugte sich. »Es ist eine große Ehre, den Kapitän der Kapitäne kennen zu lernen.«
Sie sah ihn von oben bis unten an und grunzte. Anscheinend war die Ehre nicht gegenseitig.
»Kapitän Kal-Gah hat mir von dir erzählt«, sagte sie. Dann zuckte ihr Blick zu den Elfen. »Und von denen da.«
»Ich habe das Vergnügen, Euch Damra von Gwyenoc vorstellen zu dürfen«, verkündete Shadamehr. »Ihr Gemahl Griffith. Und das hier ist Alise.«
Der Kapitän betrachtete alle nacheinander mit einem durchdringenden Blick.
»Du bist ein Zauberer«, sagte sie zu Griffith.
»Ich habe die Ehre, den Wyred anzugehören«, erwiderte er.
Dann wandte sie sich Alise zu. »Und du ebenfalls.«
»Ich kenne mich ein wenig in Erdmagie aus«, antwortete Alise.
Der Kapitän schaute von Alise zu Shadamehr und wieder zu Alise. »Bist du seine Frau?«
»Nein, das bin ich nicht«, erklärte Alise in eisigem Tonfall.
»Das ist weise von dir«, meinte der Kapitän.
Ihre Stimme war tief, aber wohlklingend und nicht rau wie viele andere Orkstimmen. Sie sprach die Allgemeine Sprache fließend und mit der Spur eines Akzents, den Shadamehr als den von Nimra erkannte. Kal-Gah hatte ihm erzählt, der Kapitän der Kapitäne wäre auf einem Schiff aufgewachsen, welches die Handelsrouten zwischen Nimra und dem Orkterritorium besegelte. Darüber hinaus hatte Kal-Gah wenig über sie gesagt
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