Der steinerne Engel
»Sie meinen den blauen Brief.«
»Ja, er war blau.« Sie nickte zufrieden, als hätte er eine Prüfung bestanden. »Tom Jessop ist nicht gläubig, müssen Sie wissen, er gehört nicht zu uns. Er wusste, dass ich dabei war, als Cass starb, aber er hat nicht verstanden, was es zu bedeuten hatte, dass sie in den Himmel aufgefahren ist. Und jetzt ist sie wieder da und will mich wegsperren. Das wollte sie schon immer. Aber als sie alle Dokumente beisammen hatte, hat Jane ... ja, Jane lässt sich so leicht nichts gefallen, sie hat einen Rechtsbeistand aus New Orleans geholt, und der hat gesagt, dass sie keine Handhabe hat, mich irgendwo einzuweisen. Aber jetzt ist sie wieder da, und diesmal wird sie es schaffen.«
Ja, Alma war offenkundig geistig gestört und brauchte Betreuung, aber ob sie die je bekommen würde, war mehr als fraglich. Jeder Schnitt an ihren Handgelenken war ein Zeichen dafür, dass wieder eine Gelegenheit vertan worden war, ihr die Hilfe zuteil werden zu lassen, die sie gebraucht hätte. Eines Tages würde ihr der Versuch gelingen, und sie würde allein sterben. Was hatte sie in Jane für eine Freundin!
»Was ist Ihnen von der Sitzung im Gedächtnis geblieben?«
»Cass kam herein, als wir die Reparaturen an dem Zelt vor der nächsten Tournee besprachen. Sie war wütend. In ihre Praxis war eingebrochen worden. Ich wusste, dass der Sheriff nicht in der Stadt war, aber was sie von uns erwartete, habe ich nie begriffen. Sie schwenkte den Brief und sagte, er sei gestohlen worden. Dabei hatte sie ihn in der Hand.«
»Könnte es eine Kopie gewesen sein?«
»Das wäre natürlich möglich ...«
»Wissen Sie, was in dem Brief stand?«
»Ja, natürlich. Sie wollte mich wegsperren lassen, das hab ich Ihnen ja gesagt.«
»Schon gut. Zurück zu der Sitzung. Hatten Sie etwas mit der Steinigung zu tun?«
»Nein, das war Gottes Werk. Die Steine kamen vom Himmel wie Regen, und einer fiel in meine Hand. Es tat nicht weh, er lag plötzlich da. Ich hab ihn mit nach Hause genommen, er liegt unter meinem Bett. Wenn die Steine nicht fielen, war es ganz still.«
Almas Stimme war schrill geworden, ihre Augen funkelten. »Cass hat nicht geschrien, daran konnte man schon sehen, dass es ein Wunder war. Dass eine Frau schweigend stirbt, wenn ihr Leib zerschlagen wird, ist doch unvorstellbar. Es war eine Prüfung. Aber sie hat begriffen, was mit ihr geschah.«
Alma umklammerte mit einer Hand Charles Butlers Arm und fuhr sich mit der anderen durchs Haar. »Und die Steine regneten nur auf Cass. Ihr Sterben war ein Wunder.« Tränen liefen Alma übers Gesicht, ihre Stimme wurde immer lauter. »Und jetzt ist sie wieder da und vollbringt Seine Werke. Sie ist gekommen, um mich zu holen. Früher hatte ich Angst, aber jetzt nicht mehr. Es ist an der Zeit, dass ich Buße tue für alle meine Sünden.« Sie sah zur Decke. »Es tut mir Leid«, schrie sie. »Ich habe DICH beleidigt.«
»Was geht hier vor?« Jane stieß mit einem Ellbogen die Tür auf. In den Händen hielt sie einen Krug und ein Glas. »Sie soll sich nicht aufregen. Vielleicht ist es besser, wenn Sie jetzt gehen, Mr. Butler.« Eine Krankenschwester, die hinter Jane aufgetaucht war, äußerte sich im gleichen Sinn. Charles verließ gehorsam das Zimmer, und die Tür schlug lautstark hinter ihm zu.
Riker lehnte, eine unangezündete Zigarette zwischen den Lippen, an einer Trage. »Wie war der Besuch, Charles? Hat sich angehört wie eine Betstunde. Hat Alma Angst, sie müsste in die Hölle, weil sie etwas Schlimmes angestellt hat?«
»Ich bin nicht sicher, ob sie etwas angestellt hat. Sie hätte einen Stein in der Hand gehabt, sagt sie, aber den hätte sie mit nach Hause genommen, und das nehme ich ihr ab, auch wenn sie offenkundig nicht ganz richtig im Kopf ist.«
»Der Stein lag also ganz plötzlich in ihrer Hand?«
»Ja. Sie glaubt, dass er vom Himmel gefallen ist.«
»Der Deputy hat etwas Ähnliches erzählt, und der war bestimmt nicht verrückt.«
»Ich glaube nicht, dass Alma noch weitere Fragen ...«
»Ich wollte gar nicht zu Alma. Am besten wartest du, bis der Sheriff weg ist, ehe du deinen Goldschatz abholst.«
»Wie bitte?«
»Mir brauchst du nichts vorzumachen, Charles. Ich habe Mallory die Medikamente gebracht. Sie war unten im Keller und hat Akten gestohlen. Weißt du, wofür diese Pillen sind?«
»Für Augusta.«
»Hat Mallory dir das weisgemacht?« Riker lächelte mitleidig. »Sie hat eine Schusswunde in der Schulter, Charles, deswegen braucht sie
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