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Der stumme Handlungsreisende

Der stumme Handlungsreisende

Titel: Der stumme Handlungsreisende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Lewin
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Schlüssel und machte mich auf den Weg nach
     Beech Grove.
    Als ich aus dem Wagen stieg,
     nahm ich zu meiner Überraschung eine Bewegung auf der Veranda von
     Linn Pighees Haus wahr. Ich ging darauf zu und sah Mrs. Thomas die Tür
     hinter sich schließen. Dann drehte sie sich um und bemerkte mich
     ebenfalls.
    »Hallo, Mrs. Thomas«,
     sagte ich, um zu zeigen, daß ich ihr nichts nachtrug.
    »Wenn Sie gekommen
     sind, um meine Schwägerin zu besuchen - sie schläft noch«,
     sagte Mrs. Thomas.
    »Nicht in der Kirche?«
    »Sie schläft immer
     lange«, sagte Mrs. Thomas, mit einer Stimme, die halb gedämpft
     und halb schrill klang.
    »Sie ist früh
     ausgegangen, nicht wahr?« sagte ich. In Anbetracht des Mangels an
     familiären Gefühlen, den beide Schwägerinnen mir gegenüber
     hatten durchblicken lassen, interessierte es mich, was sie im Haus getan
     hatte.
    »Ich muß Johns
     Interessen wahren«, sagte Mrs. Thomas. Aber sie war ebenfalls überrascht,
     mich zu sehen. »Was tun Sie hier?« fragte sie, ohne lange um
     den heißen Brei herumzureden.
    Mir war nicht danach zumute,
     ihr zu erzählen, daß ich gekommen war, um die Schecks und die
     Rechnungen ihres Bruders durchzusehen. »Ich bin mit meiner Arbeit für
     Sie fertig, das weiß ich«, sagte ich. »Gestern habe ich
     die Rechnung abgeschickt.« 
    »Die besser nicht zu
     hoch sein sollte«, sagte sie. »Sie haben nicht viel getan.«
    »Ich habe für Sie
     eine Besuchserlaubnis bei Ihrem Bruder erwirkt, was genau das ist, was Sie
     wollten. Bis Sie zu dem Entschluß kamen, daß Sie doch nicht so
     besorgt sind, wie Sie dachten.«
    »Es ging mir nur ums
     Prinzip«, sagte sie.
    Wir standen auf der Veranda
     und warteten jeder darauf, daß der andere ging. Schließlich
     sagte sie: »Sie können klingeln, soviel Sie wollen. Mich geht
     das nichts an.«       
    Ich sah ihr nach, wie sie ums
     Haus ging. Erst als sie um die Ecke bog, blickte sie noch einmal zurück.
    Im Haus selbst war alles
     sauber und ordentlich. Viel sauberer und ordentlicher als bei meinem
     letzten Besuch. Ich hatte eigentlich Unordnung erwartet. Vorurteile bezüglich
     verstörter Menschen legen die Erwartung eines unnormalen Chaos’
     nahe. Wenn hier irgend etwas unnormal war, dann war es die Ordnung.
    Dann fiel mir Mrs. Thomas
     wieder ein. Die gewohnt war, für ihren Bruder das Haus zu führen.
     Vielleicht waren ihre alten Gepflogenheiten mit ihr durchgegangen.
    Ich fand die gesuchten
     Unterlagen von John Pighee ohne Schwierigkeiten, nachdem mir erst einmal
     klargeworden war, daß er ein eigenes Schlafzimmer hatte. Hier wurden
     längst keine Luftschlösser mehr gebaut.
    Ich ging seine Bankunterlagen
     durch, entdeckte jedoch in der Unmenge von Zahlen Jahr für Jahr
     nichts Erhellendes. Dann sah ich mir die Papiere noch einmal etwas genauer
     an und machte eine Liste der jährlichen Einlagen auf seinem Giro- und
     seinem Sparkonto. Er hatte einen Taschenrechner, den ich benutzte, um die
     Zahlen an Ort und Stelle zusammenzurechnen. In dem Wissen, daß mir
     ohne dieses Gerät die Finger ausgegangen wären.
    Aber abgesehen davon, daß
     er seine Karriere bei Sir Jeff mit etwa siebentausendfünfhundert
     Dollar im Jahr begonnen und diese Summe im Laufe ihrer fünf Jahre währenden
     Verbindung auf etwas weniger als zwölftausend Dollar erhöht
     hatte, schien es nichts weiter Dramatisches zu geben. Keine plötzlichen
     Aufwärtsbewegungen; keine plötzlichen Abwärtsbewegungen.
     Oberflächlich betrachtet bestätigten
     diese Dinge nur das, was ich ohnehin wußte: Jeder verdiente mehr
     Geld als ich.
    Ich arbeitete mich von hinten
     nach vorn durch die eingelösten Schecks, wurde diese Beschäftigung
     aber nach zwei Jahren leid. Es gab nichts Ungewöhnliches, außer
     den regelmäßigen Unterhaltszahlungen an Mrs. Thomas. Die ganze
     Sache irritierte mich. John Pighees Leben war mir irgendwie zu
     durchsichtig. Viele streben nach dieser Art Kontrolle über die
     Parameter ihres Lebens, aber nur wenige sind auserwählt. Und wenn er
     einer dieser wenigen war, stimmte das nicht mit der Art von Aktivitäten
     überein, die ihn schließlich in die Luft fliegen ließen.
     Pighee war nicht verschuldet, er zahlte seine Rechnungen pünktlich
     und hatte mehr als dreitausend Dollar auf seinem Sparkonto. Eine
     unantastbare eiserne Reserve, die er tatsächlich niemals angetastet
     hatte.
    Ich wandte mich von Pighees
     Papieren ab und kämmte Zimmer für Zimmer das Haus durch.

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