Der Tag der Messer: Roman (German Edition)
kannten.
Wito sah sich aufmerksam um. Er kratzte sich am Kopf, musterte die gemauerten Wände, die großen Steinplatten, mit denen der Boden ausgelegt war. »Erstaunlich«, sagte er. »Hattet ihr euch das Labyrinth des Schreckens so vorgestellt?«
»So haben wir es vorgefunden«, erwiderte Magati.
»Aber wie hättet ihr es euch vorgestellt? Wenn man euch gefragt hätte, ehe ihr hier wart?«
»Nun«, räumte Magati widerstrebend ein. »Das ist schon ein Labyrinth, wie es sein sollte. Es sieht ein wenig so aus wie die Katakomben unter Daugazburg. Die alten Kanäle. Was wir davon kennen.«
»Ihr seid Stadtgnome«, sagte Wito. »Ich war als Kundschafter viel in den Bergen unterwegs. Für mich sah das Labyrinth von Anfang an so aus wie ein Gewirr kahler, schmaler und einsamer Bergtäler. Ich denke, wir alle haben das Labyrinth so vorgefunden, wie wir uns ein Labyrinth vorgestellt haben.«
»Die Sterne!«, rief Audan. »Dann habe ich sie mir nicht eingebildet.« Er schaute zur Decke hoch. »Aber wie kann es sein, dass die Ritze zwischen den Steinen plötzlich zu einem Bergtal wird, wenn ich mich klein mache?«
»Nun«, sagte Wito. »Ihr habt mich gefunden, als ihr es erwartet hattet. Ungeheuer erschienen, als ihr daran dachtet. Ich glaube, wir können das Labyrinth mit unseren Gedanken formen.«
»Dann können wir uns einen Ausgang herbeidenken!« Magati triumphierte.
Wito schüttelte den Kopf. »So funktioniert es nicht«, sagte er. »Das Labyrinth hat mit unseren Gedanken gespielt und ist darauf eingegangen. Aber es tut nicht das, was wir wollen. Es folgt eher … einer Traumlogik.«
»Aber wir haben Einfluss darauf«, wandte Magati ein.
»Das haben wir. Aber wir müssen vorsichtig sein. Es wäre nicht das ›Labyrinth des Schreckens‹, wenn es unsere Gedanken auf freundliche Weise deuten würde.«
»Es ist auch nicht wirklich unfreundlich«, gab Magati zu bedenken. »Sonst hätten wir dich nicht gefunden. Du hättest auch gar nicht überlebt. Es bringt uns an einen Ort, den wir fürchten. Doch in kleineren Dingen kommt es uns entgegen. Es folgt seinen eigenen Regeln. Wie können wir das nutzen? Wir müssen es nutzen können!«
»Ich weiß es nicht«, sagte Wito. Er runzelte die Stirn und atmete tief durch. »Ich weiß es nicht, aber es ist ein Ansatz. Wir können darüber nachdenken.«
»Aber in deinem Labyrinth«, stellte Audan fest. »Machen wir uns lieber klein. Deine einsame Bergödnis gefällt mir besser als die Katakomben voller Ungeheuer, die wir uns vorgestellt haben.«
»So einsam sind meine Bergtäler nicht mehr«, sagte Wito. »Immerhin sind wir jetzt zu dritt.« Er nahm seine Freunde bei der Hand und lächelte.
Magati schaute Audan an. »Aber ich sag es dir: Wenn du in nächster Zeit auch nur an Ungeheuer denkst , dann hau ich dir einen Stein auf den Kopf!«
Die drei Gnome wechselten wieder in ihre kleine Gestalt – oder in die Erscheinungsform des Labyrinths, die unter den gemauerten Gängen lag.
Die Unterredung mit Bleidans Freunden hatte Frafa verstört. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Am Abend ging sie zur Zitadelle wie in jeder Nacht und zog sich in die geheime Kammer mit Leuchmadans Kästchen zurück. Aber sie war zu aufgewühlt, um Magie zu wirken.
Sie dachte an die Menschen, die ausgezogen waren, um fruchtbares Land zu finden. Es wäre Frafas Aufgabe gewesen, mit dem Kästchen die notwendigen Oasen zu erschaffen. Sie dachte an all die Berichte, die sie hörte. Vom Regen, der nicht kam, und von der Welke, die aus dem Boden in sämtliche Pflanzen kroch, die von den Bränden verschont geblieben waren. Frafa fühlte sich schuldig.
Allein deswegen sollte sie Bleidan das Kästchen bringen. Er könnte mehr damit anfangen. Aber sie konnte sich nicht dazu entschließen. Nicht sofort und nicht in den Tagen danach.
Mitunter schaffte sie es, eine flüchtige Verbindung zu der Magie aufzunehmen und ein wenig davon für sich selbst abzuzweigen. Dann fühlte sie sich wie trunken und vergaß ihre Sorgen. Aber dieses Hochgefühl schwand rasch und ließ sie umso verzweifelter zurück.
Bleidan hatte ihr Bedenkzeit gegeben und bedrängte sie nicht. Jedenfalls nicht mit Worten. Aber wann immer sie ihn sah, fühlte sie sich bedrängt und verspürte Zorn auf ihn. Frafa mied Aldungans Turm, in dem sie gemeinsam mit Bleidan wohnte. Sie floh in die Zitadelle, in den einsamen Turm der Fei.
Als sie eines Tages wie gewohnt durch Darnamurs Arbeitszimmer kam, hielt der Gnom sie auf.
»Frafa.«
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