Der Tod des Bunny Munro
megastark, ultrafähig und übermenschlich, alles auf einmal.
Aber vor allem fühlt er sich gerechtfertigt. Sein Mojo ist zurückgekehrt, trotz alledem. Jetzt kann er sich der finsteren Verachtung dieser Kirche voll verklemmter Frauen stellen. Er überlegt sogar, ob er sich da am Waschbecken nochmal einen von der Palme schütteln soll. Er steckt sich eine Lambert and Butler zwischen die Lippen, zündet sie an und bläst seinem Spiegelbild eine Rauchtrompete ins Gesicht.
Dann sieht er, wie die Schatten hinter ihm allmählich verschwimmen, zerlaufen und ihre Lage ändern. Sie scheinen länger zu werden und jeder für sich eine eigene Persönlichkeit zu bekommen, als bewegten sie sich aus der Unterwelt auf ihn zu. Urplötzlich spürt Bunny, dass er sterben wird – vielleicht nicht heute, aber bald –, und er stellt irritiert fest, dass er diesen Gedanke irgendwie tröstlich findet. Instinktiv begreift er, dass es die Schatten der Toten sind, die sich herumwälzen und neu ordnen, um Platz für ihn zu machen.
Seine Knie werden weich, er lässt den Kopf in den Nacken fallen und sieht an die Decke. Ganz oben in der Ecke des Toilettenhäuschens hängt ein weißer Klumpen, der die Form und die Größe eines menschlichen Herzens hat. Nach einer Weile erkennt Bunny, dass es ein Wespennest ist, summend und brummend vor unheilvollem Eifer. Die Wespen machen sich bereit, denkt er. Er sieht wieder den brennenden West Pier vor sich, und das Blut gefriert ihm in den Adern – die Stare kreisen, schießt es ihm durch den Kopf. Er schließt die Augen, und für den Bruchteil einer Sekunde stürzen apokalyptische Visionen auf ihn ein – Flugzeuge, die vom Himmel fallen, eine Kuh, die eine Schlange gebiert, roter Schnee, eine Lawine eiserner Jungfrauen, eine zugetackerte Vagina, ein Phallus in Form eines Atompilzes –, und Bunny erschaudert, betrachtet im Spiegel seine Zähne und denkt: ›Mann, wo kam denn das auf einmal her?‹
Er klopft mit den Fingerspitzen leicht gegen seine Stirnlocke, bis sie genau mittig sitzt, schnippt die Zigarette gegen das Wespennest und verlässt in einem Funkenregen das Toilettenhäuschen.
Er geht über den sattgrünen, löwenzahngetüpfelten Rasen und sieht auf der Kirchentreppe Bunny Junior sitzen. Der Junge hat das Jackett ausgezogen und über den Kopf gehängt.
»Bist du das da drunter, Bunny Boy?«, fragt Bunny und sieht ihn von allen Seiten an.
»Ja«, antwortet der Junge mit tonloser Stimme.
»Warum bist du nicht drin?«, fragt Bunny.
»Die sind alle schon vor Ewigkeiten gegangen. Zum Friedhof. Was hattest du denn auf einmal?«
Bunny sieht auf die Uhr, und das Blut schießt ihm in den Kopf; wie viel Zeit hat er dort auf der Toilette verbracht?
»Die Natur hat ihr Recht verlangt«, erwidert Bunny. »Los komm. Wir gehen.«
»Was?«
»Wenn du mal das blöde Jackett vom Kopf nehmen würdest, könntest du mich vielleicht auch verstehen«, sagt Bunny. »Ich komm mir vor, als red ich mit einem Pilz.«
Bunny Junior nimmt das Jackett ab und blinzelt hoch zu seinem Vater. Seine Augen sind blutunterlaufen und mit rosa Schorf umrandet.
»Die Sonne blendet, Dad.«
»Komm her, gleich nicht mehr. Steig ins Auto. Wir sind spät dran«, sagt Bunny und geht schon über den Rasen auf den Punto zu. Bunny Junior folgt seinem Vater.
Sie steigen in den strahlend gelben Punto mit dem Pünktchenmuster aus Möwenscheiße, und Bunny lässt den Motor an und schwingt sich in den Nachmittagsverkehr.
»Mann, ist das heiß«, sagt Bunny, und Vater und Sohn kurbeln die Fenster runter.
Bunny haut auf das Radio, und heraus kommt eine unheimlich autoritäre Frauenstimme.
»Cool«, sagt er.
»Was?«, fragt der Kleine.
» Woman’s Hour.«
»Was ist das, Dad?«
»Eine Bildungssendung«, antwortet Bunny und dreht lauter.
Der Junge lässt die Luft über sein Gesicht streichen, die zum Fenster hereinweht.
»Mir geht’s irgendwie nicht so besonders«, sagt er und macht die Augen zu.
Bunny Junior hört seinen Dad antworten: »Das wird gleich wieder, Bunny Boy«, und fühlt sich dadurch schon besser, denn wenn es einem nicht gut geht, ist das Schlimmste ja bekanntlich oft, dass man nicht weiß, ob es je wieder besser wird. Mit geschlossenen Augen hört er der Frau im Radio zu. Sie sagt, dass Kinder durch Werbung sexualisiert werden oder so was. Dann erzählt sie von Barbiepuppen und vor allem von einer neuen Puppe namens Bratz, die aussieht, als hätte sie gerade Sex gehabt oder Drogen genommen oder weiß der
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