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Der Tod des Bunny Munro

Der Tod des Bunny Munro

Titel: Der Tod des Bunny Munro Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Cave
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und vom Juwelenglanz versunkener Städte, überflutet von unergründlichen Wassermassen.
    Bunny steht am Fenster seines Bungalows und sieht zu, wie die Menge über den laternengesäumten Weg am zauberhaft rosa leuchtenden Schwimmbecken vorbeigeht, an dessen Rand ein Stahlbetonelefant im gelben Tutu aus seinem erhobenen Rüssel erdbeerfarbenes Wasser spritzt. Bunny lächelt in sich hinein, als die Frauen ahnungslos an dem riesigen Glasfaser-Kaninchen mit Glotzaugen und vorstehenden Zähnen vorüberkommen, das wie eine seltsame Awatara oder ein Stammesfetisch am Wasser steht.
    Eine knallbunte Kindereisenbahn umkreist das Becken, und die Lok ist noch mit demselben strahlenden Clownsgesicht bemalt wie damals, als Bunny als Kind mit seinem Vater hier war. Auch an den Vergnügungspark mit der sensationellen Einschienenbahn, dem Apachen-Fort und der holländischen Windmühle erinnert er sich noch, an dem die Frauen jetzt achtlos vorbeigehen, während sie sich durch die leeren Schaukeln, einsamen Rutschen und verlassenen Wippen des Kinderspielplatzes schlängeln.
    Ein schwarzer Wolkenfetzen gleitet über den Mond, und Bunny zieht an einer Lambert and Butler und sieht, wie eine der Frauen auf das Gaiety Building zeigt, eine andere auf das Putting Green (mit dem riesigen Golfball, der auf einem fast zehn Meter hohen Golftee liegt) und wieder eine andere auf die Vergnügungspassage, und alle gehen die Treppen zur Haupthalle des Butlins Feriencamps in Bognor Regis empor.
    Bunnys Haltung da am Fenster hat etwas Entschlossenes; er steht mit beiden Beinen fest auf dem Boden, das Kinn erhoben und die Schultern straff zurückgenommen, und er hat einen konzentrierten, aber auch traurigen Blick.
    Über dem Eingang der Haupthalle blinkt in bonbonrosa Neonschrift das Motto von Butlins, ›UNSERE WAHRE ABSICHT IST ALLEIN IHR VERGNÜGEN‹, und durch die Bogenfenster der Halle sieht Bunny, wie die Frauen mit ihren Einladungen in der Hand umherlaufen, einander mustern und sich fragen, warum sie dort sind.
    »Unsere wahre Absicht ist allein Ihr Vergnügen«, sagt Bunny zu sich selbst, wirft den Kopf in den Nacken und leert eine Dose Coca-Cola.
    Bunny hat ein frisches Hemd angezogen – mit breiten roten Streifen und weißem Kragen und weißen Ärmelaufschlägen als Kontrast –, und die seltsame netzförmige Narbe schlängelt sich aus seinem offenen Hemdkragen wie ein Eisblumenmuster. Er hat sich besonders viel Pomade ins Haar gekämmt und seine Schmachtlocke so frisiert, dass sie mit einer neuen, fast yogiartigen Gelassenheit auf seiner Stirn sitzt. Er ist frisch rasiert und riecht stark nach Aftershave, und über seinem rechten Auge prangt eine zweieinhalb Zentimeter lange dünne, wulstige Narbe, die aussieht wie aus rosa Knetmasse.
    »Was hast du gesagt, Dad?«, fragt Bunny Junior.
    »Ich sagte, unsere wahre Absicht ist allein Ihr Vergnügen«, antwortet Bunny.
    »Was bedeutet das?«, fragt der Junge.
    »Weiß ich nicht.«
    Bunny Junior ist tief in einen beigefarbenen Cord-Sitzsack eingesunken, und seine eigene blasse Narbe über dem linken Auge sieht wie ein fernes, geisterhaftes Echo der seines Vaters aus. Er trägt ein weißes T-Shirt, blaue Shorts und Flip-Flops.
    Bunny dreht sich zu dem Jungen um, zieht an seiner Zigarette, bläst einen Rauchschlot in den Raum und fragt: »Wirst du zurechtkommen, Bunny Boy?«
    »Ich komme zurecht. Aber was ist mit dir?«, fragt Bunny Junior.
    Bunny zerdrückt die Coladose, wirft sie in die Spüle der winzigen Küchenecke und sagt: »Ja, ich bin bereit«, dann schlüpft er in sein Jackett, streckt die Arme aus und fragt: »Wie sehe ich aus?«
    »Gut, Dad«, antwortet Bunny Junior. »Bereit siehst du aus.«
    »Gut, ich hab nämlich was zu erledigen«, sagt Bunny.
    »Ich weiß, Dad«, erwidert der Junge und nimmt die angekokelten, vom Regen aufgequollenen Überreste seiner Enzyklopädie von einem niedrigen Resopal-Tischchen.
    »Du wartest unten am Schwimmbecken auf mich, und ich komme später vorbei und hole dich ab«, sagt Bunny.
    »Ja, Dad, ich weiß Bescheid.«
    Bunny nimmt den letzten Zug seiner Lambert and Butler, drückt sie im Aschenbecher aus, sieht sich im Spiegel an (zum hundertsten Mal) und sagt: »Na klar, Bunny Boy.«
    Bunny Junior lehnt sich in seinem Sitzsack zurück, schlägt seine Enzyklopädie auf, löst vorsichtig die kaputten Seiten voneinander und blättert bis zu »Fantasievorstellung«.
    »Eine Fantasievorstellung ist eine Situation, die sich im Kopf eines Einzelnen abspielt und

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