Der Tod des Bunny Munro
nicht der Realität entspricht, sondern bestimmte Wünsche oder Ziele dieser Person zum Ausdruck bringt. Fantasievorstellungen drehen sich häufig um Situationen, die unmöglich oder sehr unwahrscheinlich sind«, liest der Junge und schlägt die Enzyklopädie zu. »Wer hätte das gedacht, Dad?«, sagt er und kneift sich heimlich ins Bein.
»Bis später, Bunny Boy«, sagt Bunny, öffnet die Tür des Bungalows und tritt hinaus.
In der Abendluft liegt nur ein leiser Hauch von Kälte, und trotzdem überkommt Bunny ein Frösteln. Er hofft, es ist wegen der Meeresbrise und nicht, weil ihn in letzter Minute seine Entschlossenheit verlässt, denn auf dem Weg zur Haupthalle regt sich in ihm nicht ganz unerwartet der Verdacht, dass das, was er jetzt vorhat, womöglich doch nicht ganz so unkompliziert ablaufen wird wie geplant. Er bleibt kurz stehen, steckt sich eine Lambert and Butler zwischen die Lippen und sieht auf der Suche nach Orientierung, Kraft, Mut oder irgendwas hoch in den Nachthimmel, aber der Mond wirkt unecht und rein kosmetisch und die Sterne wie billige Effekthascherei.
»Oh Mann«, sagt er zu sich selbst. »Was ist bloß mit der Nacht passiert?«
Bunny zündet sich die Zigarette an, nimmt einen tiefen Zug, behält den Rauch einen Moment in den Lungen und begreift, dass Umkehren einfach keinen Zweck hat, er muss tun, wozu er gekommen ist, und er stößt energisch einen blauen Rauchschwall in die Luft und geht weiter. Er verlässt den Fußweg und geht ein Stück um die Haupthalle herum zum Bühneneingang des Kaiserinnen-Ballsaals.
Es stinkt nach Rauch und schalem Bier, und während Bunny die mit Teppichboden ausgelegten Stufen hochgeht, entdeckt er in dem bizarren, amorphen Muster der Velourstapete eine Reihe finsterer Gesichter mit länglichen, boshaften Augen. Sie wirken auf ihn wie eine Versammlung vorwurfsvoller Gesichter – ein grotesker Pulk von Geschädigten –, und er hofft, sie sind keine Vorboten dessen, was ihn erwartet.
Er streicht mit dem Finger über die wulstige Narbe an seinem rechten Auge und geht durch einen kurzen Flur; das dumpfe Gemurmel der Menge kommt näher, und er glaubt darin einen leisen, erwartungsvollen Unterton anschwellen zu hören. Tiefer unten ahnt er aber auch einen Widerhall von Groll und Misstrauen, und obwohl er weiß, dass er ihn sich einbildet oder ihn zumindest vorwegnimmt, implodiert er in ihm und macht ihn traurig.
»Oh Mann«, seufzt er noch einmal und betritt den engen Backstage-Bereich des Kaiserinnen-Ballsaals.
Bunny taucht in die Seitenkulisse ab, und dort im Verborgenen holt er tief Luft, zieht einen der roten, sternenübersäten Vorhänge zurück und sieht, dass der Kaiserinnen-Ballsaal mit der glänzenden, purpurgoldenen Decke und den verzierten Balkonen bis zum letzten Platz mit den Frauen gefüllt ist, die er auf dem Hauptweg gesehen hat. Sein Herz schnürt sich zusammen, und eine Blase der Furcht steigt in seiner Brust auf.
Auf einer kleinen, glitzernden Bühne beginnen drei Musiker in blassgrünen Samtjacketts eine Instrumentalversion eines Softrock-Klassikers zu spielen, der Bunny vertraut und fremd zugleich vorkommt.
Er steckt sich eine Lambert and Butler in den Mund und klopft die Taschen nach dem Zippo ab.
»Brauchst du Feuer, mein Freund?«, fragt eine Stimme.
Bunny dreht sich um, und im Dunkeln steht eine große, hagere Gestalt mit einer Zigarette im Mundwinkel und einem Saxofon um den Hals. Sie wirkt wie ein Turm aus stumpfen Winkeln. Im aufflackernden Licht eines Streichholzes sieht Bunny einen blauäugigen, gut aussehenden Mann Anfang fünfzig. Er hat einen schwarzen Schnurrbart, trägt ein Haarnetz und dasselbe blassgrüne Samtjackett wie die anderen Bandmitglieder. Er gibt ihm Feuer.
»Sollten Sie nicht auf der Bühne sein?«, fragt Bunny leise.
Der Musiker zieht an seiner eigenen Zigarette, bläst den Rauch bedächtig aus und sagt: »Nein, ich komme erst bei der dritten Nummer dazu.« Dann tritt er einen Schritt zurück, zieht noch einmal an der Zigarette und mustert Bunny kurz. »Coole Locke, Mann. Was bist du?«, fragt er. »Komiker? Zauberer? Sänger?«
»Ja, so was in der Art«, antwortet Bunny. »Ihr Schnurrbart gefällt mir.«
»Danke, Mann. Aber die Weiber stehen nicht so drauf.«
»Nein, sieht echt gut aus«, sagt Bunny.
»Naja, ist halt Pflicht«, sagt der Musiker, zieht ein letztes Mal an seiner Zigarette und tritt sie mit seinem schwarzen Lederstiefel auf dem Boden aus.
»Das verstehe ich«, sagt Bunny.
»Aber
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