Der Todschlaeger
Wärme von
Vater, Mutter und Kindern, wenn sich diese
kleine Welt auf einen Haufen eng
aneinanderdrängt, floh vor ihnen und ließ sie
schlotternd zurück, jeden in seiner Ecke. Alle
drei, Coupeau, Gervaise und Nana, waren
überaus reizbar und fraßen einander wegen
eines Wortes mit haßerfüllten Augen; und es
war, als sei irgend etwas zerbrochen, die große
Triebfeder der Familie, der Mechanismus, der
bei glücklichen Menschen die Herzen
zusammen schlagen läßt. Ach, Gervaise regte
sich bestimmt nicht mehr so auf wie früher,
wenn sie Coupeau zwölf bis fünfzehn Meter
über dem Bürgersteig am Rande der
Dachrinnen sah. Sie selber hätte ihn nicht
hinabgestoßen; aber wenn er auf natürliche
Weise abgestürzt wäre, du meine Güte, dann
wäre die Oberfläche der Erde einen
Taugenichts los gewesen. An den Tagen, da es
Krach im Hause gab, schrie sie, warum man
ihn ihr denn nie auf einer Tragbahre
zurückbringe. Sie wartete darauf, da würde
man ihr ihr Glück zurückbringen. Wozu sei er
nütze, dieser Säufer? Um sie zum Weinen zu
bringen, um ihr alles aufzufressen, um sie zum
Bösen zu treiben. Na ja, Männer, die sowenig
brauchbar sind, die werfe man so schnell wie
möglich in die Grube, man tanze auf ihnen die
Erlösungspolka. Und wenn die Mutter »Töte!«
sagte, so erwiderte die Tochter: »Schlag tot!«
Nana las die Unfälle in der Zeitung mit den
Überlegungen einer entarteten Tochter. Ihr
Vater hatte ein derartiges Glück, daß ihn ein
Pferdeomnibus umgefahren hatte, ohne ihn
auch nur nüchtern zu machen. Wann würde er
bloß verrecken, dieser Saukerl?
Bei diesem vor Elend tollwütigen Dasein litt
Gervaise noch unter dem Hunger, den sie rings
um sich röcheln hörte. Dieser Winkel des
Hauses war der Winkel der armen Schlucker,
wo sich drei oder vier Familien verabredet zu
haben schienen, nicht alle Tage Brot zu haben.
Die Türen mochten sich noch so weit öffnen,
sie ließen nicht gerade oft Küchengerüche
herausdringen. Längs des Korridors herrschte
ein Schweigen des Verreckens, und die Wände
klangen hohl wie leere Bäuche. Mitunter gab
es wahre Tänze, Frauentränen, Gejammer
hungriger Knirpse, Familien, die sich
auffraßen, um ihren Magen zu täuschen. Ihnen
allen saß der Krampf in der Kehle, er gähnte
aus ihrem Munde, den sie gierig vorreckten;
und die Brust wurde beim bloßen Einatmen
dieser Luft hohl, in der selbst die Mücken aus
Mangel an Nahrung nicht hätten leben können.
Großes Mitleid aber hatte Gervaise vor allem
mit Vater Bru in seinem Loch unter der
kleinen Treppe. Dorthin zog er sich wie ein
Murmeltier zurück und rollte sich zu einer
Kugel zusammen, um weniger zu frieren; er
blieb tagelang auf einer Strohschütte liegen,
ohne sich zu rühren. Nicht einmal der Hunger
brachte ihn mehr dazu, herauszukommen,
denn es war recht zwecklos, sich draußen
Appetit zu holen, wenn ihn niemand zum
Essen eingeladen hatte. Wenn er sich drei oder
vier Tage nicht sehen ließ, stießen die
Nachbarn seine Tür auf und sahen nach, ob es
nicht mit ihm zu Ende gegangen war. Nein, er
lebte dennoch, nicht sehr, aber ein bißchen,
mit einem Auge bloß – sogar der Tod vergaß
ihn! Sobald Gervaise Brot hatte, warf sie ihm
Krusten hin. Wenn sie auch wegen ihres
Mannes schlecht wurde und die Menschen
verabscheute, so bedauerte sie stets ganz
aufrichtig die Tiere; und Vater Bru, dieser
arme Alte, den man verrecken ließ, weil er
kein Werkzeug mehr halten konnte, wat für sie
wie ein Hund, ein ausgedientes Tier, dessen
Fell und Fett nicht einmal die Abdecker
kaufen wollten. Es lag ihr wie eine Last auf
dem Herzen, ihn ständig dort auf der anderen
Seite des Korridors zu wissen, von Gott und
den Menschen verlassen, sich einzig und allein
von sich selber nährend, zur Größe eines
Kindes zurückkehrend, runzlig und
ausgetrocknet wie eine Apfelsine, die auf dem
Kamin zusammenschrumpft.
Die Wäscherin litt ebenfalls sehr unter
Bazouges, des Leichenträgers, Nachbarschaft.
Eine einfache, sehr dünne Bretterwand trennte
die beiden Stuben. Er konnte sich keinen
Finger in den Mund stecken, ohne daß sie es
hörte. Sobald er abends heimkam, verfolgte sie
unwillkürlich seinen kleinen Haushalt: wie der
schwarze Lederhut, dumpf hallend wie eine
Schaufel voll Erde, auf der Kommode
aufschlug, wie der schwarze Mantel
aufgehängt wurde und die Wand mit dem
Flügelrauschen eines Nachtvogels streifte, wie
der ganze schwarze Plunder
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