Der Tote am Lido
Tränen drückten gegen die Lider, liefen in ihre Nase und kitzelten an der Scheidewand. Sie hielt die Luft an, damit sie nicht nieste. Aber es war zu spät.
Doch noch ehe sie herausplatzte, wurde es dunkel, seine Beine brauchten bloß drei Schritte, um den Raum zu verlassen. Die Tür wurde zugeworfen, und in diesem Moment, nur für zwei, drei Sekunden, konnte sie husten, niesen und weinen gleichzeitig. ER sperrte das Schloss zu und ging. Das Schiebetor krachte, dann war wieder Stille.
Sara war sicher, das war ein Zeichen. Sie durfte nicht aufgeben. Sie arbeitete sich zur Wand, schob sich hoch und suchte die Muffe. Sie spürte keinen Schmerz mehr, als sie die Plastikschlinge wieder und wieder über die Kante scheuerte. Und sie spürte nicht einmal ein besonderes Glücksgefühl, als die Fessel endlich nachgab.
Sara schaute hinauf zu der Luke. Sie war schmal, aber Saras Hüften waren schmaler. Sie musste nur hoch kommen.
23
Lunau atmete zweimal tief durch, dann schloss er vorsichtig die Tür auf. Als er in den stickigen Wohnraum trat und Licht machte, kam Silvia aus dem Schlafzimmer der Kinder gerannt. Sie schaute ihn aus verschreckten, verquollenen Augen an. Lunau machte eine beschwichtigende Geste.
»Und?«, fragte sie.
»Ich wollte nur einmal nach dem Rechten sehen.«
»Neuigkeiten von Sara?«
Lunau schüttelte den Kopf.
»Hast du mit ihr gesprochen?«, sagte Silvia mit einem Ton, in dem sich Vorwurf, Angst und Wut mischten. Sie schüttelte Lunau an den Schultern.
»Nein. Ich muss los, ich werde Michael jetzt treffen.«
Er löste sich aus ihrem Griff, strich ihr mit der Hand über die zerzausten Haare und ging an ihr vorbei.
»Wo willst du hin?«
»Mirko auf Wiedersehen sagen.«
Sie schwieg, aber er sah ihren verkrampften Rücken, die Fingerkuppen, die hektisch an der Kopfhaut hinter dem Ohr kratzten.
Auf Mirkos Bett fiel ein gelblicher Lichtschein. Seine Haare waren verklebt, sein magerer Körper lag reglos unter dem dünnen Laken. Er seufzte, als Lunau seine feuchte Stirn mit den Lippen berührte. Wie gerne hätte er ihn gestreichelt, nur ein paar Minuten bei ihm verbracht. Ein Unterarm hing über die Bettkante, und Lunau erkannte Elle und Speiche, die an den Handwurzelknochen endeten. Er dachte an seinen Sohn Paul, der mit sieben von einem Klettergerüst gestürzt war und sich die beiden Knochen gebrochen hatte. Wie dünne Äste hatten sie unter seinem Gewicht mit einem trockenen Knacken nachgegeben, hatten eine bizarre Kurve gebildet und mit den scharfen Bruchstellen von innen gegen die Haut gestoßen. In Lunaus Kopf bauten sich Bilder auf, von Saras zarten Gliedern, über die Michael verfügte, und er spürte, wie sich ein unkontrollierbarer Hass in ihm Bahn brach. Er riss sich davon los, beugte sich hinunter und fasste in Mirkos Tasche. Das längliche Etui, das er suchte, lag obenauf.
Dann ging er ins Wohnzimmer und umarmte Silvia. Sie war noch immer verkrampft, lehnte sich nicht an seine Schulter und erwiderte seinen Kuss nicht. Ihre Lippen waren kalt und schmal. Er hatte noch vier Minuten.
Als er den Wagen startete, rief er noch einmal Sascha an. Auf dem Weg zur Küste hatte er ihm Michaels Facebook-Identität und das Passwort durchgegeben. Eine Handynummer hatte er nicht finden können.
»Hast du etwas herausbekommen?«
»Nein«, sagte er. »Ich bin dran. Ich melde mich.«
»Aber mach schnell. Ich muss das Handy gleich ausschalten.«
Verärgert legte Sascha auf.
Lunau steuerte die Brücke über den Canal Logonovo an, dieselbe, über die Joy gerannt war. Der Platz war klug gewählt. Die Brücke war ein Nadelöhr, gut zu überschauen, und auf beiden Seiten des Kanals begann ein dichtes Netz aus Wohnstraßen, in denen man etwaige Verfolger abschütteln konnte. Es war sechs Minuten nach zwei. Lunau stellte den Motor ab. Niemand war zu sehen. Waren sie etwa schon wieder gegangen? Weil er sich verspätet hatte?
Links konnte man das Meer erahnen, das der Mond glitzern ließ. Pinien ragten als schwarze Silhouetten in den Himmel. Lunau hatte nur eine Chance: Er musste Michael zur Vernunft bringen, ihm erklären, dass er Joys Versteck nicht kannte. Dass Michael Sara freilassen musste. Im Gegenzug würde niemand von der Entführung erfahren.
Lunaus Handy piepste, um den Eingang einer SMS anzuzeigen. Wieder kam sie von einer unterdrückten Nummer. »Fahr zum Bagno Sabbia d’Oro, danach folgst du der Sandpiste hinter den Dünen.«
Lunau brauchte etwa zehn Minuten, bis er den Parkplatzdes
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