Der Totenmeister: Thriller (German Edition)
Entführung erzählt. Auch nicht Joe, als der aus Coral Springs zurückgekommen war, und nicht Eldon, der sie beide in sein Büro gerufen hatte, um ihnen die neuesten guten und schlechten Nachrichten zu überbringen: Die Familie Ismaels war in die US-amerikanische Botschaft in Port-au-Prince gebracht worden, aber es gab »logistische Probleme« mit dem Deal, weil sowohl Sams Anwalt als auch der Staatsanwalt erst am nächsten Tag Zeit hatten, die Verhandlungen aufzunehmen. Gegen Mittag waren Joe und Max in die Garage in Overtown gefahren, um sämtliche Unterlagen einzusammeln und in die MTF zu bringen. Danach hatte es eine lange Dienstbesprechung gegeben, an der alle MTF-Mitarbeiter teilgenommen hatten. Vorläufige Pläne für die zeitgleiche Festnahme aller Mitglieder des SNBC, die Ismael ihnen genannt hatte, waren ausgearbeitet worden. Ganz oben auf der Liste standen Carmine und Eva Desamours. Max hätte eigentlich Vorfreude und Hochgefühl verspüren müssen, die aufgeregte Anspannung der bevorstehenden Jagd und Zufriedenheit darüber, wie sich alles zusammenfügte und wie es bisher gelaufen war, aber er hatte an nichts anderes denken können als an Sandra und daran, was sie gerade durchmachte. Dass er nicht fähig gewesen war, sie zu beschützen und dass das alles nie passiert wäre, wäre sie ihm nie begegnet.
Die Jugendlichen sangen »California Girls«, nur dass sie den Text zu »Florida Girls« ummünzten. Offensichtlich kannte keiner die Strophen, also hielten sie sich an den Refrain. Sie fingen an zu singen, brachen ab, lachten, kicherten, johlten, rülpsten, redeten und fingen wieder an zu singen.
Die Zeit verging langsam. Hinter ihm liefen Menschen am Strand entlang, allein oder zu zweit oder zu dritt, aber er konnte nicht mehr erkennen als undeutliche Gestalten in der Dunkelheit. Er rauchte Kette, überprüfte seine Waffen und konzentrierte sich auf das Rauschen des Meeres. All das konnte seine bloßliegenden Nerven nicht beruhigen. Sein Puls raste, sein Mund war trocken. Er musste daran denken, wie Sandra ihn am Morgen nach der Nacht, in der sie zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten, hierherbegleitet hatte. Genau von dieser Stelle aus hatten sie beobachtet, wie die Sonne aufging. Viel geredet hatten sie nicht. Es war nicht nötig gewesen. Ihm traten Tränen in die Augen.
Um Viertel vor zwölf stand er auf.
Er horchte auf Schritte, ließ den Blick von rechts nach links und von links nach rechts über den Strand wandern.
Nichts.
Er drehte sich um und schaute zum Ocean Drive und zum Lummus Park hoch.
Dann bemerkte er aus dem Augenwinkel, dass das Lagerfeuer verschwunden war.
Zumindest war das sein erster Gedanke, doch dann begriff er sehr bald, dass nur jemand davorstand und ihm den Blick verstellte. Die Person kam auf ihn zu.
Er sah die Silhouette von Kopf und Schultern, dann bog die Person abrupt nach links ab, und das Feuer war wieder zu sehen. Die Jugendlichen hielten sich bei den Händen und tanzten im Kreis um die Flammen.
»Warum ermitteln Sie gegen mich?«, fragte eine männliche Stimme aus der Dunkelheit heraus. Haitianischer Akzent, der Tonfall ruhig und gemessen und sehr leise, ein lautes Flüstern. Es war nicht die gleiche Stimme wie am Telefon.
»Wer sind Sie?« Max wollte sich in die Richtung wenden, aus der die Stimme kam, aber er konnte sie nicht orten. Sie schien von allen Seiten zu kommen und außerdem sehr nah zu sein, beinahe direkt an seinem Ohr.
»Sie wissen, wer ich bin«, antwortete der Mann.
»Boukman?« Max folgte der Stimme, versuchte in der Dunkelheit ein Gesicht auszumachen, aber er sah keines. »Wo ist Sandra?«
»Warum ermitteln Sie gegen mich?«, wiederholte der Mann. Da war etwas Raues in seinem Flüstern.
Max glaubte, ihn direkt vor sich stehen zu sehen, mit dem Rücken zum Meer. Er tat ein paar Schritte auf ihn zu.
Großer Fehler. Um ihn herum wurden mindestens zwanzig Waffen durchgeladen, zwanzig Hähne, die in Schießposition schnappten.
Er blieb stehen.
»Warum ermitteln Sie gegen mich?«, wiederholte der Mann mit unveränderter Stimme, ohne jede Ungeduld. Er war derjenige, der am längeren Hebel saß und alle Zeit der Welt hatte, ihn zu betätigen.
»Weil ich verdammt noch mal Polizist bin, Einstein!«, zischte Max. »Wo ist Sandra?«
Keine Antwort. Ohne Kopf oder Körper zu bewegen, schaute Max von rechts nach links. Glänzendes Metall und sehr undeutlich die Umrisse von Menschen, die es hielten, dunkle Reliefs auf dunklem Grund. Er glaubte,
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